Häusliche Gewalt in Russland: die Schattenseite des propagierten Familienidylls
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Russische Frauen begehren immer wieder gegen häusliche Gewalt auf – wie hier bei einer Demonstration 2019.
© Quelle: Sergey Mamontov/Sputnik/dpa
Es war gegen 5 Uhr morgens, als am 14. Januar des vergangenen Jahres bei der Polizei in der westsibirischen Großstadt Kemerowo mehrere Notrufe eingingen. Am anderen Ende der Leitung versuchten die Bewohner eines Hostels im Südosten der Stadt immer wieder Alarm zu schlagen, denn aus einer Wohnung im neunten Stock des Gebäudes drangen schon seit geraumer Zeit die verzweifelten Hilferufe einer Frau. Doch die Miliz kam und kam nicht. Schließlich brachen die Nachbarn die Tür der Wohnung mit einem Vorschlaghammer selbst auf. Doch es war zu spät: Die 23-jährige Studentin Vera Pechtelewa lag tot in ihrem Blut. Ihr Peiniger Wladislaw K. saß betrunken auf der Couch und trank Wodka. Pechtelewa hatte ihre Sachen bei ihrem Ex-Freund K. abholen wollen.
Die Polizisten blieben dreieinhalb Stunden untätig
Die Beziehungstat erhitzt die Gemüter in Russland noch immer, denn der mutmaßliche Täter steht im Augenblick vor Gericht. Ihm drohen 20 Jahre Gefängnis. Die zwei Polizisten Major Michail B. und Hauptmann Dmitri T. sind ebenfalls angeklagt. Die beiden Beamten waren in der Tatnacht die Dienstverantwortlichen. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie das Leben der jungen Frau wahrscheinlich hätten retten können. Doch statt sofort nach dem ersten Anruf einen Streifenwagen zum Tatort zu beordern, blieben sie untätig. Und das über dreieinhalb Stunden hinweg, wie die Nachbarn vor Gericht als Zeugen aussagten. Die Obduktion ergab, dass der Getöteten 56 – zum Teil schwerwiegendste – Verletzungen am Kopf und Körper zugefügt worden waren.
Häusliche Gewalt endet für russische Frauen immer wieder tödlich, weil die Ordnungskräfte nicht mit der erforderlichen Konsequenz reagieren. Zu ähnlichen Fällen des Polizeiversagens kam es in jüngerer Zeit auch in Lebedjan und Orjol, zwei Städten in Zentralrussland. Es hilft dabei nicht weiter, dass nachlässige Beamte oft nicht mit harten Strafen rechnen müssen: In Kemerowo wurden Major B. und Hauptmann T. zunächst nur wegen der Verletzung ihrer Obhutspflicht in einem minder schweren Fall angeklagt. Das hätte geheißen, dass sie wahrscheinlich mit einer Geldstrafe davongekommen wären. Nachdem der öffentliche Aufschrei darüber aber sehr laut wurde, beantragte die Staatsanwaltschaft eine Heraufstufung des möglichen Strafmaßes.
Wer helfen will, wird zum „ausländischen Agenten“ degradiert
Für Julia Gorbunowa, Russland-Repräsentantin der US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, ist die widerwillige Auseinandersetzung der Behörden mit dem Problem der häuslichen Gewalt politisch begründet: „Der Staat will ein Bild der russischen Familie propagieren, die ‚stark‘ ist, weil sie ‚traditionelle‘ Werte hochhält“, sagte sie dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Anders als in Westeuropa, wo homosexuelle Paare Kinder adoptieren und aus ihnen angeblich Schwule oder Lesben machen.“
Dass mit dem „traditionellen“, das heißt patriarchalisch geprägten Familienkonzept, Probleme wie männliche Gewalt einhergehen könnten, passt da nicht ins Bild. Das bekommen auch Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu spüren, die Hilfeleistungen für betroffene Frauen anbieten und damit öffentlich auf die Problematik aufmerksam machen. Der Staat entzieht ihnen finanzielle Mittel und zwingt sie, sich als sogenannte „ausländische Agenten“ anzumelden. Eine solche Registrierungspflicht besteht seit 2012 für Organisationen, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten und Einfluss auf die staatliche Politik oder die öffentliche Meinung nehmen könnten.
Das Etikett „Ausländischer Agent“ bringt viele Hilfsorganisationen allerdings in eine Zwickmühle. Oft sind sie auf internationale Hilfsgelder angewiesen, weil zivilgesellschaftliche Projekte in der Regel nicht ausreichend gefördert werden. Andererseits ist das „Agenten“-Stigma oft von großem Nachteil. Es beeinträchtigt nicht nur den öffentlichen Auftritt und das Spendenaufkommen in Russland, sondern birgt alle möglichen Risiken. Die NGO Nasiliu.net (russisch für „Nein zur Gewalt“), die Ende Dezember zum „ausländischen Agenten“ erklärt wurde, erhielt zum Beispiel kürzlich von ihrem Vermieter die Kündigung ihrer Büroräume in Moskau mit einer Frist von vier Wochen: „Er sagte offen, dass ihm unsere Aktivitäten nicht passen“, schrieb Nasiliu-Gründerin und -Chefin Anna Riwina in einem offenen Brief. „Allein 2020 haben wir in unseren Räumen 960 Frauen Schutz gewährt und sie beraten. Für eine so große Organisation ist ein neues Büro ein erheblicher Kostenfaktor.“
Ersttäter gehen oft straffrei aus
Dabei galten die Organisationen, die ja nicht anderes wollen, als Frauen vor Gewalt zu bewahren, noch als vollkommen unpolitisch, als die Registrierungspflicht für „ausländische Agenten“ 2012 eingeführt wurde. Das änderte sich erst, als der Paragraph 116 im Strafgesetzbuch, der die Ahndung häuslicher Gewalt von 2016 an vorsah, von der Duma ein Jahr später schon wieder gekippt wurde. Seither wollen sich die russischen Frauen-NGOs nicht damit abfinden, dass Ersttäter straffrei ausgehen, wenn die Opfer keine schweren körperlichen Schäden davontragen. Sie setzen sich daher für die Wiedereinführung des Straftatbestandes ein, was sie in den Augen des russischen Staates zu politischen Aktivisten macht.
„In den 1990er-Jahren war die häusliche Gewalt als Thema noch lange nicht so politisch aufgeladen wie heute“, erklärt die Frauenrechtlerin Marina Pislakowa-Parker, die 1995 die Hilfsorganisation Anna Center gründete. „Damals versuchte man schlicht, miteinander zu sprechen und das Problem zu lösen. Es wurde politisch, als sich fundamental konservative und religiöse Gruppierungen dafür einsetzten, die häusliche Gewalt aus dem Strafrecht zu löschen.“
RND