Wenn der Mafioso gar keiner ist
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Immer wieder gelingt der Polizei ein Schlag gegen die Mafia in Italien – doch nicht jeder Verdächtige wird verurteilt. (Symbolbild)
© Quelle: imago/ZUMA Press
Rom. Die erste Großrazzia war die erfolgreichste: In der Provinz Cosenza in Kalabrien haben die Carabinieri am 1. September 202 mutmaßliche Mitglieder und Helfer der ‘Ndrangheta festgenommen oder in Hausarrest versetzt. Wie bei Antimafiaaktionen üblich, befanden sich unter den Festgenommenen auch Lokalpolitiker und Unternehmer. Den Verhafteten wird Mitgliedschaft in einer mafiösen Vereinigung, Drogenhandel, Schutzgelderpressung, Wettbetrug und Geldwäsche vorgeworfen. Die in Kalabrien beheimatete ‘Ndrangheta ist die gefährlichste und mächtigste Mafiaorganisation Italiens und versorgt dank ihrer Verbindungen zu den südamerikanischen Drogenkartellen halb Europa mit Kokain. Ihr Jahresumsatz wird von der italienischen Antimafiadirektion auf 50 bis 60 Milliarden Euro geschätzt.
Am gleichen Tag schlug die Polizei auch 1000 Kilometer weiter nördlich zu: Im Raum Bergamo wurden weitere 30 Personen festgenommen, die ebenfalls der ‘Ndrangheta angehören sollen. Norditalien dient den Clans – wie übrigens auch Deutschland, die Schweiz und Österreich, wo die Mafia ebenfalls längst ihre Ableger hat – in erster Linie als Plattform für Geldwäsche. In Bergamo werden gleich mehrere Unternehmer verdächtigt, über ihre Firmen Geld aus kriminellen Aktivitäten gewaschen zu haben. Involviert sind offenbar auch einige Buchhalter und ein Angestellter der Steuerbehörde. In der sizilianischen Hafenstadt Trapani haben die Antimafiaeinheiten ebenfalls eine Großrazzia durchgeführt. Dabei sind Dutzende mutmaßliche Mitglieder der Cosa Nostra festgenommen worden.
700 Mafiosi wandern jedes Jahr hinter Gitter
Die kurze Abfolge der Großeinsätze sei indes zufällig, erklärte ein Mafiaexperte des Justizministeriums auf Nachfrage. Tatsächlich ist die staatliche Repression gegen die Clans nie erlahmt, wie ein Blick in die Statistik zeigt: Seit Anfang 2016 bis Ende Juni 2022 (die jüngsten Verhaftungen sind in den Zahlen also noch nicht berücksichtigt) haben die Spezialeinheiten der Carabinieri 4371 mutmaßliche Mafiosi verhaftet – 1260 Mitglieder der ‘Ndrangheta, 1220 Mitglieder der Cosa Nostra, 1054 Mitglieder der neapolitanischen Camorra sowie 478 Mitglieder der Sacra Corona Unita in Apulien. Das bedeutet, dass in Italien in den letzten sechseinhalb Jahren im Durchschnitt jeden Tag zwei mutmaßliche Mafiosi hinter Gitter wanderten – rund 700 jedes Jahr.
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Da sich die Ermittlungen fast immer gegen „mafiöse Vereinigungen“ richten, liegt es in der Natur der Sache, dass bei einer einzelnen Razzia jeweils Dutzende, nicht selten sogar mehr als 100 Personen festgenommen werden. Das Problem: Die Anklagen der Antimafiastaatsanwälte verflüchtigen sich in den anschließenden Prozessen immer häufiger zu bloßen Verdächtigungen. Das heißt: Zahlreiche der vermeintlichen Mafiosi sind vielleicht gar keine – sie werden mangels Beweisen freigesprochen oder das Verfahren wird eingestellt. Dasselbe droht in großem Ausmaß auch in dem gerade laufenden „Jahrhundertprozess“ gegen die ‘Ndrangheta in Lamezia Terme in Kalabrien, wo über 400 Angeklagte vor dem Richter stehen. Nach zweieinhalb Jahren Prozessdauer sind bisher nur 70 von ihnen schuldig gesprochen worden.
Strengere Regeln für Verurteilungen
Dies hängt auch mit einem Urteil des Römer Kassationshofes zusammen, der die Voraussetzungen für die Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer mafiösen Vereinigung – das Mafiadelikt schlechthin – strenger formuliert hat. Vereinfacht gesagt: Für eine Verurteilung reicht es nicht mehr, dass ein Verdächtigter mit einem Mafiaclan enge Kontakte pflegt – die Ermittlungsbehörden müssen ihm auch handfeste kriminelle Machenschaften oder konkrete Hilfestellung für die Clans nachweisen können.
Das folgenreiche Urteil des Kassationshofes erfolgte im Rahmen eines Verfahrens gegen zwei Mitglieder eines Schweizer Ablegers der ‘Ndrangheta: Sie waren von der Polizei dabei abgehört worden, wie sie am Telefon mit ihrer Mafiafamilie in Kalabrien über Drogen- und Waffengeschäfte diskutierten. Bei Hausdurchsuchungen am Schweizer Wohnort der beiden Männer fanden die Ermittler aber jeweils kein Gramm Kokain und auch keine Schusswaffen oder Munition. Trotzdem wurden sie in Italien wegen Mitgliedschaft in einer mafiösen Vereinigung zunächst zu langjährigen Haftstrafen verurteilt – ein Urteil, das der Kassationshof aufhob und in Freisprüche umwandelte.
Der Straftatbestand der mafiösen Vereinigung war, zusammen mit einer Kronzeugenregelung für die Mafiaaussteiger, jahrzehntelang die Wunderwaffe der italienischen Justiz bei der Bekämpfung der Clans gewesen – aber unter dem Gesichtspunkt der Rechtsstaatlichkeit auch immer ziemlich umstritten.