Kindesentführungen in China: Nach 14 Jahren trifft Sun Zhuo seine Eltern wieder
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Sohn Sun Zhuo mit seinem Vater Sun Haiyang und seiner Mutter Peng Siying.
© Quelle: imago images/VCG
14 Jahre und 57 Tage hat Sun Haiyang auf den Moment gewartet, seinen Sohn endlich wiederzusehen. Am Montag schließlich nahm er den mittlerweile 18-jährigen Sun Zhuo unter archaischen Freudenschreien in die Arme. Der berührende Moment, festgehalten von einer wackeligen Handykamera, wurde seither im chinesischen Netz Hunderte Millionen Mal angeschaut.
Es ist kein Wunder, dass die tragische Geschichte das ganze Land bewegt: 2007 kidnappte ein fremder Mann den damals knapp Vierjährigen aus der südchinesischen Metropole Shenzhen. Die Überwachungskamera an der Ecke eines Supermarktes nahm den Entführer für ein paar flüchtige Momente in schlechter Qualität auf: Etwa 1,65 Meter groß ist er, Mitte 40, hat schütteres Haar und ein hageres Gesicht mit tief sitzenden Augen.
Die einzige Fährte
Dies war die einzige Fährte, die den Eltern des Jungen blieb. Dennoch gaben sie ihre Suche zu keinem Zeitpunkt auf. Vater Haiyang sagte einmal, dass er fast jede Region Chinas bereist habe, um Hinweise über den Verbleib seines „Zhuo Zhuo“ zu finden. Er brauchte dafür sein Erspartes auf, verkaufte zunächst das Familieneigentum und nahm schlussendlich Schulden auf.
Gemeinsam mit seiner Frau setzten sie eine Belohnung von umgerechnet fast 30.000 Euro für brauchbare Hinweise aus. Und ihren Frühstücksladen, den sie in Shenzhen betrieben, nannten sie ebenfalls nach ihrem Sohn: An die Wände klebten sie alte Erinnerungsfotos von ihm – alles vergebens.
Kinofilm „Dearest“ über den wahren Fall
Der Hongkonger Regisseur Peter Chan zeigte sich derart von der tragischen Geschichte inspiriert, dass er 2014 den Kinofilm „Dearest“ über den wahren Fall inszenierte. Dieser generierte nicht nur einen Millionenumsatz an den Kinokassen, sondern auch eine ganze Menge medialer Aufmerksamkeit. Doch er half letztlich nicht, Sun Zhuo ausfindig zu machen.
So traurig seine Geschichte auch ist, so handelt es sich dennoch nicht um einen Einzelfall. Jährlich werden Tausende Kinder in China Opfer von Menschenhandel. Wie hoch die Dunkelziffer ist, kann niemand seriös einschätzen. Vor zehn Jahren schrieben einige Medien von bis zu 20.000 Fällen. Laut staatlichen Angaben wurden allein im Laufe dieses Jahres mehr als 8000 Kinder mit ihren leiblichen Eltern wiedervereint, vor allem dank der systematischen DNA-Datenbank, die Chinas Sicherheitsbehörden betreiben.
Kinderhandel durch Ein-Kind-Politik angefeuert
Angefeuert wurde der Kinderhandel nicht zuletzt durch die traumatische Ein-Kind-Politik, die die Kommunistische Partei 1980 einführte. Sie ließ den Nährboden für einen perfiden Schwarzmarkt gedeihen, in dem kleine Jungen wie Waren gehandelt wurden. Auch drakonische Strafen konnten den lukrativen Menschenhandel nicht beenden. Denn manche Eltern waren eher bereit, einen Jungen auf dem Schwarzmarkt zu kaufen, als ein zweites Kind zu bekommen – möglicherweise wieder ein Mädchen – und hohe Strafen zu bezahlen. In der patriarchalen Gesellschaft gelten insbesondere in den ländlichen Provinzen Söhne als einzige legitime Fortführung des Familienstammbaums.
Dieses Jahr gelang den Behörden im Fall Sun Zhuo endlich der Durchbruch. Dank der fortgeschrittenen Gesichtserkennung konnten sie auf Grundlage der Videoaufnahmen der Supermarktkamera in Shenzhen einen Verdächtigen identifizieren. Die Spur führte schließlich über 1000 Kilometer nordöstlich in die Provinz Shandong, wo Sun Zhuo bei einer Familie neben zwei älteren Töchtern aufwuchs.
Sun Zhuo will auch künftig bei seinen Adoptiveltern leben
Der vielleicht spektakulärste Plot-Twist in diesem Fall erfolgte erst nach der Wiedervereinigung der Familie: Der mittlerweile 18-jährige Sun Zhuo erklärte in aller Öffentlichkeit, dass er auch künftig bei seinen Adoptiveltern leben möchte. Diese hätten ihn schließlich seit mehr als zehn Jahren ordentlich aufgezogen.
Tatsächlich zeigt der entführte Junge keine offensichtlichen Traumatisierungen: Er soll mit Liebe aufgezogen worden sein und in der Schule gute Leistungen gezeigt haben. Dass er entführt wurde, habe er anscheinend verdrängt.
„Adoptiveltern“ droht eine mehrjährige Gefängnisstrafe
Doch als Käufer eines Kindes drohen den vermeintlichen „Adoptiveltern“, die derzeit auf Kaution freigelassen sind, nun eine mehrjährige Gefängnisstrafe. Jedoch kann diese abgemildert werden, wenn das Kind keine Gewalteinwirkung erfahren hat.
Der Teenager Sun Zhuo ist jedoch bereits wieder in seine Wahlheimat Shandong zurückgekehrt, um seinen Schulunterricht fortzusetzen. Wie sein Leben weitergeht, wird nun wohl das Gericht entscheiden müssen.