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Psychologin: „Abschieds­briefe entstehen nicht aus einer Impuls­handlung heraus“

Viele Kerzen brennen auf einem Gehweg vor einem Einfamilienhaus in einem Ortsteil der Stadt Königs Wusterhausen.

Viele Kerzen brennen auf einem Gehweg vor einem Einfamilienhaus in einem Ortsteil der Stadt Königs Wusterhausen.

Berlin. Nach der Entdeckung der fünf Toten am Samstag in einem Einfamilien­haus im Königs Wusterhausener Ortsteil Senzig (Brandenburg) gilt der Vater laut Ermittlern als verantwortlich. Der Mann habe nach der Tat Suizid begangen. Ein Abschieds­brief weise auf den 40-Jährigen, hieß es. Die Familie war nach Angaben des Landkreises nicht beim Jugendamt bekannt.

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Der Brief, den Ermittler im Haus der Familie gefunden hatten, liegt der Staats­anwaltschaft Cottbus vor. Demnach hatte der Mann ein Impf­zertifikat für seine Frau fälschen lassen, und ihr Arbeitgeber hatte dies erfahren. Nun hatte das Paar Angst vor einer Verhaftung und dem Verlust der Kinder, wie die Staatsanwaltschaft am Dienstag mitteilt.

Die Psychologin Prof. Dr. Isabella Heuser-Collier von der Berliner Charité glaubt an eine psychische Vorerkrankung des Familien­vaters, wie sie im Interview mit dem Redaktions­Netzwerk Deutschland (RND) sagt. Die Expertin erklärt außerdem, wie die psychische Verfassung des Mannes nun rekonstruiert wird.

Der mutmaßliche Mitnahme­suizid in Brandenburg schockiert. Der Abschieds­brief des Familien­vaters besagt laut Polizei, dass das Paar zuletzt in Angst lebte. Kann eine solche Angst allein Auslöser für einen Mitnahme­suizid sein?

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Es ist gänzlich unrealistisch, dass eine Gerichtsbarkeit einem bis dahin unbescholtenen Familien­vater die Kinder entziehen wird, weil er einen Impfausweis gefälscht hat. Das würde so nicht passieren. In der Regel ist es bei solchen Mitnahme­suiziden so, dass eine psychische Erkrankung vorliegt, zum Beispiel eine schwere Angst­erkrankung oder eine Depression mit wahnhaften Vorstellungen.

Gibt es dabei Unterschiede zwischen Männern und Frauen?

Grund für einen Mitnahme­suizid kann auch eine schwere narzisstische Persönlichkeits­störung sein. Dieser Fall tritt häufiger bei Männern auf, wenn sie beispielsweise von der Frau gekränkt worden sind. In der Regel nehmen Männer eher den Partner oder die Partnerin mit in den Tod als die Kinder. Bei Frauen mit Depressionen und wahnhaften Vorstellungen kommt es häufiger vor, dass sie die Kinder mitnehmen, wie bei dem Fall in Solingen im Jahr 2020, bei dem eine Mutter fünf ihrer sechs Kinder getötet hat und anschließend versucht hat, sich selbst zu töten. Pauschal kann man das aber nie sagen – es liegt in nahezu allen Fällen aber eine psychische Erkrankung vor.

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Isabella Heuser-Collier ist Direktorin der Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité.

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Isabella Heuser-Collier ist Direktorin der Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité.

Der in dem Haus in Königs Wusterhausen gefundene Abschieds­brief gibt Aufschlüsse über das Motiv der Tat. Warum schreiben manche Menschen vor ihrem Suizid einen Abschieds­brief?

Abschieds­briefe entstehen nicht aus einer Impuls­handlung heraus. Bei impulsiven Suiziden gibt es meistens keine Abschieds­briefe. Ein solches Schreiben wird eher in einem Zustand der Ruhe und Abgeschlossenheit angefertigt, wenn sich die Person zum Sterben entschlossen hat. Dann möchte sich der Mensch einfach noch mal erklären, etwas zurechtrücken oder sich gegenüber Kindern, Angehörigen oder der Gemeinde rechtfertigen. Die genauen Hintergründe im Fall der Brandenburger Familie müssen aber in einer psychologischen Autopsie des Familien­vaters und der Mutter erarbeitet werden. Alles andere wäre Spekulation.

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Es ist sicherlich nicht leicht, die Psyche eines Menschen nach seinem Ableben zu verstehen. Wie genau funktioniert eine psychologische Autopsie?

Mithilfe einer solchen Nachforschung kann man die psychische Verfassung eines Menschen recht gut nachvollziehen. Die Menschen, die mit der betroffenen Person häufig zusammen waren, werden ausführlich befragt. Das sind Verwandte, Freunde oder auch Kolleginnen und Kollegen. In der heutigen Zeit werden auch die Accounts in den sozialen Netzwerken angeschaut. Was hat der Mensch zuletzt gemacht? Wofür hat er sich interessiert? Es gibt meist Anzeichen für solche psychischen Gefahren. In der Regel senden verzweifelte Menschen schon vor einer Tat Hilferufe aus, oder haben sich bereits jemandem anonym anvertraut, zum Beispiel über eine Hotline oder die Telefon­seelsorge. Auch der Browser­verlauf des Computers oder des Handys kann hilfreich sein, ob der Mensch nach etwas Bestimmten, wie zum Beispiel einer Tötungs­methode gesucht hat. Aber mit letztlicher Gewissheit kann man das nicht immer klären.

Befördern Extrem­situationen, wie beispielsweise aktuell die Corona-Pandemie, suizidale Gedanken? Konnte das nachgewiesen werden?

In Deutschland ist die Zahl der Suizide im Vergleich zum Vorjahr nur ganz wenig gestiegen. Man kann auch nicht alles auf die Pandemie schieben. Aber es ist schon so, dass die Pandemie und die damit einhergehende Isolation vor allem bei vulnerablen Gruppen wohl zu vermehrter körperlicher Gewalt anderen gegenüber führen kann. Dazu gehören Menschen und Familien, die in schwierigen Verhältnissen leben. Deshalb sollten Kita- und Schul­schließungen auch unbedingt vermieden werden. Man hat gesehen, dass es unter beengten Wohn­verhältnissen und möglicherweise noch zusätzlicher Arbeits­losigkeit der Eltern, zu Gewalt­ausbrüchen kommen kann.

Die Fälle häuslicher Gewalt sind ja während der Pandemie gestiegen. Wie sieht das bei der Gewalt gegenüber Kindern aus?

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Richtig, besonders die Gewalt gegenüber Frauen. Bei der Gewalt gegenüber Kindern haben wir bislang leider keine verlässlichen Zahlen. Wir wissen aber, dass Kinder durch die Folgen der Pandemie wie Schul­schließungen oder Homeschooling in ihrer kognitiven als auch in ihrer motorischen Entwicklung gelitten haben. Kinder­ärzte bestätigen das und auch die Statistik deutet darauf hin.

Wie sollte man als Eltern­teil damit umgehen, wenn man bemerkt, dass der Partner oder die Partnerin gewalttätigt gegenüber den eigenen Kindern oder einem selbst ist oder Gewalt­fantasien hegt?

Man sollte sich unbedingt Hilfe suchen und nicht den Beteuerungen des Partners oder der Partnerin Glauben schenken, es würde nicht wieder passieren. Das ist in der Regel leider nicht so. Man sollte sich bei den entsprechenden Notrufen Hilfe suchen und beraten lassen, was man in der Situation tun kann. Gegebenenfalls muss die Polizei eingeschaltet werden.

Und wie sieht das bei Kindern aus, deren Eltern gewalttätig sind? An wen können die sich wenden?

Für Kinder ist es in der Zeit von Homeschooling sehr schwierig gewesen. In der Schule konnten sie sich noch an die Lehrenden wenden. Nachbarn im Haus, die Großeltern, andere Verwandte, Vertrauens­personen oder Notruf­nummern bieten Möglichkeiten, sich anzuvertrauen. In der aktuellen Zeit, wo die Kinder wieder zur Schule gehen, können sie mit einer Lehrerin oder einem Lehrer sprechen, mit der oder dem sie sich gut verstehen. Welcher Weg der beste ist, hängt aber auch immer vom Alter des Kindes ab. Wichtig ist aber in erster Linie, dass sie sich unbedingt einem Erwachsenen anvertrauen. Unbedingt!

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Haben Sie Suizid­gedanken? Dann wenden Sie sich bitte an folgende Rufnummern:

Telefon­hotline (kostenfrei, 24 Stunden täglich), auch Auskunft über lokale Hilfs­dienste:

(0800) 111 0 111 (ev.)

(0800) 111 0 222 (rk.)

(0800) 111 0 333 (für Kinder und Jugendliche)

E-Mail unter www.telefonseelsorge.de

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