Psychologin: „Abschiedsbriefe entstehen nicht aus einer Impulshandlung heraus“
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Viele Kerzen brennen auf einem Gehweg vor einem Einfamilienhaus in einem Ortsteil der Stadt Königs Wusterhausen.
© Quelle: Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/dp
Berlin. Nach der Entdeckung der fünf Toten am Samstag in einem Einfamilienhaus im Königs Wusterhausener Ortsteil Senzig (Brandenburg) gilt der Vater laut Ermittlern als verantwortlich. Der Mann habe nach der Tat Suizid begangen. Ein Abschiedsbrief weise auf den 40-Jährigen, hieß es. Die Familie war nach Angaben des Landkreises nicht beim Jugendamt bekannt.
Der Brief, den Ermittler im Haus der Familie gefunden hatten, liegt der Staatsanwaltschaft Cottbus vor. Demnach hatte der Mann ein Impfzertifikat für seine Frau fälschen lassen, und ihr Arbeitgeber hatte dies erfahren. Nun hatte das Paar Angst vor einer Verhaftung und dem Verlust der Kinder, wie die Staatsanwaltschaft am Dienstag mitteilt.
Die Psychologin Prof. Dr. Isabella Heuser-Collier von der Berliner Charité glaubt an eine psychische Vorerkrankung des Familienvaters, wie sie im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) sagt. Die Expertin erklärt außerdem, wie die psychische Verfassung des Mannes nun rekonstruiert wird.
Der mutmaßliche Mitnahmesuizid in Brandenburg schockiert. Der Abschiedsbrief des Familienvaters besagt laut Polizei, dass das Paar zuletzt in Angst lebte. Kann eine solche Angst allein Auslöser für einen Mitnahmesuizid sein?
Es ist gänzlich unrealistisch, dass eine Gerichtsbarkeit einem bis dahin unbescholtenen Familienvater die Kinder entziehen wird, weil er einen Impfausweis gefälscht hat. Das würde so nicht passieren. In der Regel ist es bei solchen Mitnahmesuiziden so, dass eine psychische Erkrankung vorliegt, zum Beispiel eine schwere Angsterkrankung oder eine Depression mit wahnhaften Vorstellungen.
Gibt es dabei Unterschiede zwischen Männern und Frauen?
Grund für einen Mitnahmesuizid kann auch eine schwere narzisstische Persönlichkeitsstörung sein. Dieser Fall tritt häufiger bei Männern auf, wenn sie beispielsweise von der Frau gekränkt worden sind. In der Regel nehmen Männer eher den Partner oder die Partnerin mit in den Tod als die Kinder. Bei Frauen mit Depressionen und wahnhaften Vorstellungen kommt es häufiger vor, dass sie die Kinder mitnehmen, wie bei dem Fall in Solingen im Jahr 2020, bei dem eine Mutter fünf ihrer sechs Kinder getötet hat und anschließend versucht hat, sich selbst zu töten. Pauschal kann man das aber nie sagen – es liegt in nahezu allen Fällen aber eine psychische Erkrankung vor.
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Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Isabella Heuser-Collier ist Direktorin der Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité.
© Quelle: picture alliance/dpa
Der in dem Haus in Königs Wusterhausen gefundene Abschiedsbrief gibt Aufschlüsse über das Motiv der Tat. Warum schreiben manche Menschen vor ihrem Suizid einen Abschiedsbrief?
Abschiedsbriefe entstehen nicht aus einer Impulshandlung heraus. Bei impulsiven Suiziden gibt es meistens keine Abschiedsbriefe. Ein solches Schreiben wird eher in einem Zustand der Ruhe und Abgeschlossenheit angefertigt, wenn sich die Person zum Sterben entschlossen hat. Dann möchte sich der Mensch einfach noch mal erklären, etwas zurechtrücken oder sich gegenüber Kindern, Angehörigen oder der Gemeinde rechtfertigen. Die genauen Hintergründe im Fall der Brandenburger Familie müssen aber in einer psychologischen Autopsie des Familienvaters und der Mutter erarbeitet werden. Alles andere wäre Spekulation.
Es ist sicherlich nicht leicht, die Psyche eines Menschen nach seinem Ableben zu verstehen. Wie genau funktioniert eine psychologische Autopsie?
Mithilfe einer solchen Nachforschung kann man die psychische Verfassung eines Menschen recht gut nachvollziehen. Die Menschen, die mit der betroffenen Person häufig zusammen waren, werden ausführlich befragt. Das sind Verwandte, Freunde oder auch Kolleginnen und Kollegen. In der heutigen Zeit werden auch die Accounts in den sozialen Netzwerken angeschaut. Was hat der Mensch zuletzt gemacht? Wofür hat er sich interessiert? Es gibt meist Anzeichen für solche psychischen Gefahren. In der Regel senden verzweifelte Menschen schon vor einer Tat Hilferufe aus, oder haben sich bereits jemandem anonym anvertraut, zum Beispiel über eine Hotline oder die Telefonseelsorge. Auch der Browserverlauf des Computers oder des Handys kann hilfreich sein, ob der Mensch nach etwas Bestimmten, wie zum Beispiel einer Tötungsmethode gesucht hat. Aber mit letztlicher Gewissheit kann man das nicht immer klären.
Befördern Extremsituationen, wie beispielsweise aktuell die Corona-Pandemie, suizidale Gedanken? Konnte das nachgewiesen werden?
In Deutschland ist die Zahl der Suizide im Vergleich zum Vorjahr nur ganz wenig gestiegen. Man kann auch nicht alles auf die Pandemie schieben. Aber es ist schon so, dass die Pandemie und die damit einhergehende Isolation vor allem bei vulnerablen Gruppen wohl zu vermehrter körperlicher Gewalt anderen gegenüber führen kann. Dazu gehören Menschen und Familien, die in schwierigen Verhältnissen leben. Deshalb sollten Kita- und Schulschließungen auch unbedingt vermieden werden. Man hat gesehen, dass es unter beengten Wohnverhältnissen und möglicherweise noch zusätzlicher Arbeitslosigkeit der Eltern, zu Gewaltausbrüchen kommen kann.
Die Fälle häuslicher Gewalt sind ja während der Pandemie gestiegen. Wie sieht das bei der Gewalt gegenüber Kindern aus?
Richtig, besonders die Gewalt gegenüber Frauen. Bei der Gewalt gegenüber Kindern haben wir bislang leider keine verlässlichen Zahlen. Wir wissen aber, dass Kinder durch die Folgen der Pandemie wie Schulschließungen oder Homeschooling in ihrer kognitiven als auch in ihrer motorischen Entwicklung gelitten haben. Kinderärzte bestätigen das und auch die Statistik deutet darauf hin.
Wie sollte man als Elternteil damit umgehen, wenn man bemerkt, dass der Partner oder die Partnerin gewalttätigt gegenüber den eigenen Kindern oder einem selbst ist oder Gewaltfantasien hegt?
Man sollte sich unbedingt Hilfe suchen und nicht den Beteuerungen des Partners oder der Partnerin Glauben schenken, es würde nicht wieder passieren. Das ist in der Regel leider nicht so. Man sollte sich bei den entsprechenden Notrufen Hilfe suchen und beraten lassen, was man in der Situation tun kann. Gegebenenfalls muss die Polizei eingeschaltet werden.
Und wie sieht das bei Kindern aus, deren Eltern gewalttätig sind? An wen können die sich wenden?
Für Kinder ist es in der Zeit von Homeschooling sehr schwierig gewesen. In der Schule konnten sie sich noch an die Lehrenden wenden. Nachbarn im Haus, die Großeltern, andere Verwandte, Vertrauenspersonen oder Notrufnummern bieten Möglichkeiten, sich anzuvertrauen. In der aktuellen Zeit, wo die Kinder wieder zur Schule gehen, können sie mit einer Lehrerin oder einem Lehrer sprechen, mit der oder dem sie sich gut verstehen. Welcher Weg der beste ist, hängt aber auch immer vom Alter des Kindes ab. Wichtig ist aber in erster Linie, dass sie sich unbedingt einem Erwachsenen anvertrauen. Unbedingt!
Haben Sie Suizidgedanken? Dann wenden Sie sich bitte an folgende Rufnummern:
Telefonhotline (kostenfrei, 24 Stunden täglich), auch Auskunft über lokale Hilfsdienste:
(0800) 111 0 111 (ev.)
(0800) 111 0 222 (rk.)
(0800) 111 0 333 (für Kinder und Jugendliche)
E-Mail unter www.telefonseelsorge.de