Überalterte Bevölkerung: Die Griechen werden grau
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Ein griechischer Rentner sieht auf das Meer im Süden von Athen (Archivfoto).
© Quelle: picture alliance / Robert Geiss
Athen. Mit seinen schroffen Bergmassiven und tiefen Flusstälern ist Evrytania eine der beeindruckendsten Landschaften Griechenlands. Früheste Spuren menschlicher Besiedlung gehen zurück bis ins sechste Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung. Aber jetzt bekommt in Evrytania das geflügelte Wort von den „alten Griechen“ eine ganz neue Bedeutung: Keine andere Region in der Europäischen Union ist so überaltert. Das zeigen neue Daten der Statistikbehörde Eurostat. Weil in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr junge Menschen wegen fehlender Bildungsangebote und schlechter Berufschancen die Region verließen, stehen in Evrytania heute statistisch jedem Einwohner im Rentenalter nur noch 1,2 Berufstätige gegenüber.
Die abgelegene Bergregion Mittelgriechenlands ist eine Art Fenster in die Zukunft. So wie hier könnte es in einigen Jahrzehnten überall in Griechenland aussehen. Noch ist Italien in der EU das Land mit der ungünstigsten Bevölkerungsentwicklung. Der Anteil der über 65-Jährigen macht 22,8 Prozent der Einwohner aus, gegenüber 20,3 Prozent im EU-Durchschnitt. In Griechenland sind es 22 Prozent. Aber nach Hochrechnungen von Eurostat werden die Griechen die Italiener 2030 als „ältestes“ Volk der EU ablösen.
Bald „ältestes“ Volk der EU
2011 erreichte die Bevölkerungszahl des Landes mit 11,1 Millionen ihren Höhepunkt. Seither geht sie ständig zurück. 2020 schrumpfte die griechische Bevölkerung so stark wie nie zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nämlich um 46.234 Menschen. Wie viele Bewohner und Bewohnerinnen das Land aktuell hat, wird die Volkszählung zeigen, die am vergangenen Wochenende begann und bis Mitte Dezember dauert. Statistiker schätzen, dass die Bevölkerungszahl seit der vorangegangenen Erhebung 2011 um eine halbe Million gesunken ist und aktuell 10,6 Millionen beträgt.
In vielen Ländern Europas schrumpft die Bevölkerung infolge sinkender Geburtenraten. EU-weit ist die Zahl der unter 18-Jährigen seit 1994 um gut 15 Prozent zurückgegangen. Die niedrigsten Geburtenraten in der EU haben die Italiener, Griechen und Spanier. In Griechenland kommen mehrere Faktoren verschärfend hinzu. Anders als andere europäische Staaten und die USA erlebte Griechenland in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg keinen Babyboom. Das war auch eine Folge des griechischen Bürgerkriegs, der sich an den Weltkrieg anschloss.
Zwischen 1950 und 1974 wanderten mehr als eine Million Griechinnen und Griechen aus, davon über 600.000 nach Deutschland. Die Schuldenkrise der Jahre 2010 bis 2018 löste eine weitere Welle der Emigration aus: Eine halbe Million junge Griechinnen und Griechen verließen ihre Heimat, weil sie dort wegen der Sparprogramme keine Chance auf eine Karriere sahen. Mit diesem Exodus verlor Hellas nicht nur viele seiner besten Talente, sondern auch deren Nachwuchs. Jene, die zurückblieben, verzichteten wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten häufig auf Kinder. Vor der Krise waren in Griechenland pro Jahr etwa 118.000 Babys zur Welt gekommen. Vergangenes Jahr waren es nur 85.600. Diesen Geburten standen 132.000 Sterbefälle gegenüber. Wenn sich der Trend des vergangenen Jahrzehntes fortsetzt, wird Griechenland in 30 Jahren nur noch 8,3 Millionen Einwohner haben.
Staatliche Prämie für jedes Neugeborene
Die Regierung des seit Mitte 2019 amtierenden konservativen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis versucht gegenzusteuern. Als erste Maßnahme kündigte Mitsotakis gleich nach seiner Wahl eine staatliche Prämie von 2000 Euro für jedes Neugeborene an. Sie wird seit Anfang 2020 gezahlt. Kinderreiche Familien erhalten zusätzliche Steuervorteile, die Mehrwertsteuer auf Babyartikel wurde gesenkt. Beide Ehepartner haben künftig nach der Geburt eines Kindes Anspruch auf vier Monate bezahlten Urlaub, zwei davon auf Kosten der staatlichen Arbeitsverwaltung. Väter bekommen nach der Geburt eines Kindes sechs Monate Kündigungsschutz. Die Arbeitsbedingungen für junge Eltern sollen flexibler werden. Der Staat will 50.000 neue Kita- und Kindergartenplätze finanzieren und Nachbarschaftsinitiativen zur Kinderbetreuung fördern. Für die Programme setzt Griechenland Mittel aus dem EU-Corona-Aufbaufonds RRF ein.
Ob die Initiativen greifen, muss sich in den nächsten Jahren in der Geburtenstatistik zeigen. Wenn nicht, geht Griechenland schweren Zeiten entgegen. Die Überalterung der Bevölkerung gefährdet nicht nur die Rentensysteme, zumal nicht nur die Geburtenrate sinkt, sondern auch die Lebenserwartung steigt. Die gesamte wirtschaftliche Zukunft des Landes steht auf dem Spiel. Der Internationale Währungsfonds (IWF) setzt Griechenlands langfristiges Wachstumspotenzial wegen des Bevölkerungsschwunds nur bei 0,9 Prozent im Jahr an. Das wirft die Frage auf, ob das Land die Hilfskredite überhaupt planmäßig zurückzahlen kann. Athen erhielt in den Krisenjahren 2010 bis 2018 insgesamt 278 Milliarden Euro. Die Tilgung dieser Darlehen läuft bis ins Jahr 2070.