„Was uns zusammen hält“: Ein Besuch auf dem Dorf
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Das ganz normale Dorfleben: Zwischen Volleyballturnier, Theateraufführungen, Wohnprojekten und Wochenendgästen gibt es Konflikte ebenso wie Kooperation. Und es wird klar: Wie sich ein Dorf entwickelt, hängt von Einzelnen ab.
© Quelle: Jacqueline Schulz
Adendorf. Ein Brief geht um in Adendorf, Sachsen-Anhalt. Absender unbekannt. Eines Morgens, erst ein paar Tage ist es her, da lag er in den Briefkästen der Dorfbewohner, einfach so. Sechs Zeilen, handgeschrieben und fotokopiert. Thema: Unkraut und Baumschnitte. Denn “einige Leute, die nicht lesen können oder denken, dass sie was Besseres sind“, so steht es im Brief, werfen sie an Orte, an die sie nicht gehören. Und das Jahr für Jahr. Weil niemand etwas dagegen unternimmt, könne ja nun jeder seinen Biomüll auf die Straßen werfen.
Die Gemüter sind erhitzt seither. Der Ortsbürgermeister ist informiert, seine Stellvertreterin ebenfalls. Man lädt zum Gespräch, das unter den Bewohnern längst begonnen hat. Wer ist der Urheber dieser 355 Zeichen? Der eine will einen Mann gesehen haben, der andere eine Frau, der Letzte dazu noch einen Hund.
Der eine weist wortlos auf dieses Haus, der andere felsenfest überzeugt auf jenes. Verdachtsmomente gibt es viele, Unschuldsvermutungen wenige. Denn obwohl Adendorf im Mansfelder Land gerade einmal 103 Einwohner zählt, kennt hier nicht jeder jeden. Das war einmal. Bevor der Wohlstand kam und mit ihm die Mobilität.
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Wie Großstädte spaltet sich Adendorf in Viertel, und davon fünf: Ortskern, Gutshaus, Kuhstall, die Siedlung “Neues Leben“ und die Wochenendsiedlung.
© Quelle: Jacqueline Schulz
Damit ergeht es Adendorf wie so vielen Dörfern im Osten der Republik, die sonst durch den Wegzug der Jungen Schlagzeilen machen. Als Problembeleg einer ganzen Region sollen diese Schlagzeilen-Dörfer dann dienen, als Beispiel für den ländlichen Abstieg Ost. Als sei ein Dorf im Osten mit einem anderen vergleichbar, nur weil sie beide Dörfer im Osten sind oder amtliche Statistiken ihnen Ähnlichkeit unterstellen.
Schon der Brief, Absender unbekannt, offenbart, dass selbst ein einzelnes Dorf nicht homogen ist. Wie Großstädte spaltet sich Adendorf in Viertel, und davon fünf: Ortskern, Gutshaus, Kuhstall, die Siedlung “Neues Leben“ und die Wochenendsiedlung. Die Bewohner dieser Viertel können nur bedingt miteinander, wie ganz Adendorf nur bedingt mit seinen Nachbardörfern auskommt. Hinzu kommt die Spaltung der Generationen und zwischen Im-Dorf-Geborenen und Zugezogenen.
Diese begreift, wer Monika Ost besucht. Die Vergangenheit ist bei ihr Dauergast, in jeder feucht-spröden Ritze ihres Hauses hat sie sich eingenistet. An die Wand hat sie sich in Form einer Fotosammlung gehängt, daran Dutzende Schwarz-Weiß-Fotografien. Eine zeigt Monika Ost mit 15 Jahren: blonder Engel mit Teddy in den Armen. Heute, fünf Jahrzehnte später, sind die Zeiten des Engeldaseins vergangen. Ost plagt die Krankheit. Schmerzen bei jedem Schritt, selbst das Armeheben quält.
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Die stellvertretende Ortsbürgermeisterin Monika Ost meint: “Mit der Wende kam der Neid“, sagt sie. “Heute grüßt man sich noch, aber Gemeinschaft gibt es keine mehr.“
© Quelle: Jacqueline Schulz
Was ihr noch bleibt, ist die Vergangenheit. In Form einer Dorfchronik schreibt sie sie auf, seit Jahren schon. Ost beschreibt die Geschichte Adendorfs als Jahrhunderte ausbleibenden Glücks. Landwirtschaftlichen Reichtum gab es nicht, und Schicksalsgöttin Fortuna ohrfeigte Adendorfs Verwalter, indem sie ihre Nachfahren Mal für Mal zu früh versterben ließ.
1950 dann die Eingemeindung mit Friedeburgerhütte, 800 Meter entfernt. Dort allerdings lebten die Bergarbeiter. Ein anderer Typ Mensch als die Adendorfer Landwirte. Das passte nicht zusammen, und so wuchsen Unwohlsein und Apathie. Entsprechend ist für Menschen aus Friedeburgerhütte die Adendorfer Feuerwehr unzumutbares Tabu, für Adendorfer im Gegenzug das Osterfeuer in Friedeburgerhütte.
Auch die Adendorfer untereinander sind einander tabu, sagt Ost. Früher, da waren die Kinder auf der Straße. Da waren sie alle eine Gemeinschaft und halfen sich, wann immer sie konnten. Bis die Einheit kam, die keine Einheit brachte. Denn von da an, sagt Ost, regierte der Neid. Wer behielt seinen Job, wer verlor ihn? Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurden zur Währung des Selbstbewusstseins. Ansonsten: Neid um Waren, Neid um Jobs, Neid um Positionen.
Am schönsten ist das Land als Illusion
Adendorfs Bevölkerung blutete aus, und gekommen sind die, die nicht von hier stammen. Flüchtlinge nennt Ost sie. Stadtflüchtlinge. Denn am schönsten ist das Land als Illusion, weit weg, meist in den Köpfen der Großstädter, die derzeit so gern Bäume umarmen und dafür sogar einen Begriff gefunden haben: Tree Hugging.
Monika Ost umarmt keine Bäume. Sie ist froh, wenn sie ihr nicht aufs Haus fallen. In ihrem Gesicht muss einmal Übermut gewesen sein, kleiner, blonder Engel, 15 Jahre, aber geblieben ist Kapitulation. Was müsste man tun, damit das Dorf wieder zusammenwächst? “Nichts, da gibt es nichts, das man noch tun könnte.“
Sie ist nicht die Einzige, die so fühlt. Es gibt viele, die so empfinden. Sie sagen Sätze wie: “Wenn ich nachdenke, bin ich einsam. Also habe ich beschlossen, mit dem Denken aufzuhören. Seit Jahren schon. So halte ich es aus.“ Oder: “Hätten sie die Mauer mal ein paar Meter höher gebaut.“ Und sie alle sagen: “Keiner interessiert sich mehr für früher.“ Früher, damit meinen sie die DDR. In ihren ostalgietrunkenen Augen finden sich Kohls “blühende Landschaften“ höchstens zusammengepfercht in den akkuraten Blumenbeeten, die ein jeder hier hegt.
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Weil ihr daheim das Dach auf den Kopf fällt, leistet Monika Weißbach im Dorf Bundesfreiwilligendienst und gründete eine Fitnessgruppe
© Quelle: Jacqueline Schulz
“Diese Leute leben in der Vergangenheit“, sagen dagegen Einwohner wie Monika Weißbach. Sie ist eine von den anderen. Eine Zugezogene, die ihre Kindheit in Adendorf verbrachte, um dann kurz überall zu leben und jetzt auf dem Adendorfer Grundstück ihres Vaters. “Nimm es“, sagte der. “Bist du verrückt?“, fragten ihre Söhne. “Zieh doch nicht aufs Land!“ Weißbach tat es trotzdem, fühlt sich wohl, auch wenn sie bisweilen hadert.
Der Brief, Absender unbekannt, ist ein weiteres Beispiel für den rauen Ton der Mansfelder. Weißbach ist eine von denen, deren Abfälle an der falschen Stelle lagen. Eine von denen, über die das Dorf nun liest, sie könne nicht lesen oder halte sich für etwas Besseres. Weißbach, deren Übermut der Kapitulation noch nicht wich, kocht, wenn sie darüber spricht.
64 Jahre ist sie alt. Sportlich ist sie wie eine 34-Jährige. Weil ihr daheim das Dach auf den Kopf fällt, leistet sie im Dorf Bundesfreiwilligendienst und gründete eine Fitnessgruppe drüben im Gutshaus. Im zweiten Stock hat Weißbach ihr Fitnessstudio eingerichtet. Drei Geräte hat sie selbst gekauft, einen Stepper überließ ihr der Sohn.
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Zum jährlichen Volleyballturnier haben sich die jungen Bewohner der Dörfer rund um Adendorf versammelt.
© Quelle: Jacqueline Schulz
Weißbach verlegte Boden und strich Wände. “Hallo Mädels aus Adendorf! Seid ihr dabei, wenn es heißt: Runter von der Couch?“, fragte ihr Aushang vor zwei Jahren. Zwei Mädels wollten. Zwei von 52 möglichen. “Immerhin“, sagt Weißbach. Und so trainieren sie nun jeden Mittwoch, 60 Minuten. Weißbach vornweg, die zwei anderen hinterher.
Von draußen sind Schreie zu hören. Kurz zuckt Weißbach, dann sagt sie: “Ah, die jungen Leute, drüben.“ Mit “jungen Leuten“ meint sie die Bewohner zwischen 40 und 50. Denn in Adendorf sind Zahlen relativ. Sprechen Bewohner vom letzten Zuzug, neulich, dann meinen sie den vor zwei Jahren. Sprechen sie von der Gaststätte, die etwas länger schon zu ist, dann geht es um die Schließung vor Jahrzehnten, so was um den Dreh. Und während Zeiten sich knautschen, dehnen Zählungen sich aus. Ob es viel Leerstand gebe in Adendorf? Stöhnen. Ächzen. Ja! Zwei Häuser kriege man nicht besetzt. Zwei!
Entsprechend dieser Logik kommen die Schreie draußen also von den Jungen. Zum jährlichen Volleyballturnier haben sie sich versammelt. Zu gewinnen ist der Achim-Menzel-Gedächtnis-Pokal, eine tönerne Büste des wie auf Droge dreinblickenden Sängers. Denn in Adendorf spielte Achim Menzel, Musiker- und Moderatorenstar des Ostens, eines seiner letzten Konzerte.
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Holte Achim Menzel zu "Adendorf Rocks“: Horst Lehmer.
© Quelle: Jacqueline Schulz
Einmal im Jahr, stets im August, wirft Adendorf alle Generationenteilung, alle Vorbehalte, allen Nachbarschaftsekel beiseite – und trifft sich hinter dem Gutshaus zu Adendorf Rocks. 350 Mann kommen dann nach Adendorf mit seinen 103 Einwohnern, in diesen Ort ohne alles außer Feld und Bauland, um bis zum Sonnenaufgang zu tanzen.
Horst Lehmer ist der Mann, der das Spektakel organisiert. Und einmal wollte er richtig einen Musiker dahaben. “Dann hole ich Achim Menzel“, sagte Lehmer. “Schaffste eh nicht“, sagten alle. Lehmer schaffte es. Und Spaß hatte der Achim, das glaubst du nicht. Immer wieder ist er von hinten auf die Bühne.
Der Lehmer jedenfalls ist auch ein Flüchtling aus der Stadt. Aber wieder einer von einer anderen, eher selteneren Sorte. Die der sich aufreibenden Engagierten. Menschen dieser Sorte entstammen den Jungen. Sie sind gekommen, um zu bleiben und einen Ort zu schaffen, an dem man dies gern tut. Lehmer, 1,90 Meter Charisma, organisiert Adendorf Rocks, leitete einst die Feuerwehr und hilft bei der Organisation des Volleyballturniers.
Die Zukunft Adendorfs gehört den Menschen, die hier keine Vergangenheit haben
So gehört die Zukunft Adendorfs den Menschen, die hier keine Vergangenheit haben. Den Jungen, die in Adendorf nicht Tod sehen, sondern lediglich den Erlebnisstillstand. In jedem der angrenzenden Dörfer gibt es Menschen dieser Sorte. Sie bilden nie die Mehrheit, aber eine Minderheit, die die Dörfer lebenswert macht oder eben nicht. Die Minderheiten sind vernetzt untereinander, und wenn sie gerade nicht selbst organisieren, pendeln sie zu denen, die das gerade tun. Heute Volleyballturnier in Adendorf, nächste Woche Kinderzirkus in Lochwitz, dann Konzert in Elben, dann wieder Kino in Adendorf.
Beim Volleyballturnier haben die Minderheiten ihre Kinder dabei. Sie sind die, die sich hier am wohlsten fühlen. “Ich will nie wieder hier weg“, sagen sie beim Volleyballturnier. “Ich ziehe nicht in den Lärm. Nie.“ Selbst einige der Jugendlichen, die gerade in der Stadt leben, wollen zurück. Das Volleyballturnier ist eine der Veranstaltungen, die das verständlich machen: Neun Mannschaften treten an. Keine spielt professionell, aber jede tut als ob, wirft sich in den Sand, als sei Verletzung Fremdwort für sie, pritscht den Ball mit allem, was der Körper bietet.
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Als der Sand zu sehr staubt, holt die Feuerwehr den Einsatzwagen und bewässert das Volleyball-Feld.
© Quelle: Jacqueline Schulz
Die Szene wirkt wie eine aus einem “Landlust“-Magazin. Familien, Spiele, Lachen. Im Hintergrund Musik aus jemandes CD-Sammlung, dazu Schafe, Wiesen, Bäume, blauer Himmel. Kinder verkaufen Cola für 50 Cent und Bier für 1,50 Euro. Als der Sand zu sehr staubt, holt die Feuerwehr den Einsatzwagen und bewässert das Feld. Ländlicher Pragmatismus, schöner als jedes Klischee.
Die Feuerwehr ist die Herz-Lungen-Maschine Adendorfs, der einzige Verein des Ortes und damit der einzige Verein, der regelmäßig zu Veranstaltungen lädt. Zudem ist sie eine der wenigen Schnittstellen zwischen Jung und Alt. Anerkennung ist ein rares Gut in Adendorf, verwaltet von den Alten. In der Feuerwehr kann darum geworben werden.
“Das ist so: Da raunt dich immer einer an und findet dich doof. Aber dann bist du in der Feuerwehr und er braucht mal Hilfe, dann kannst du dich verdient machen. Das sagt er nicht, aber du merkst es, wenn er dir später ein Bier ausgibt.“ Das Gewinnen von Anerkennung geht nicht schnell, aber es geht. “Zehn Jahre braucht’s“, sagt einer, in Adendorf quetscht sich die Zeit nun mal.
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Einst landwirtschaftlich genutzt, jetzt Wohnprojekt: Der ehemalige Kuhstall in Adendorf.
© Quelle: Jacqueline Schulz
Keiner weiß das besser als die Bewohner des ehemaligen Kuhstalls. Vor fast 20 Jahren zogen sie her, organisieren mit Theater, Kino und Festen einen Großteil des Dorflebens und bleiben trotzdem Zugezogene. Denn als sie kamen, da waren sie Spinner für die Dorfbevölkerung. Studentenheinis ohne Ahnung vom Leben. Sie wollten raus aus der Stadt. Adendorf war ihnen egal, bloß einen Ort zum Niederlassen suchten sie.
Ein gemeinsames Wohnprojekt starteten sie, Informatikstudent Axel Bauer hatte es initiiert. Den alten Kuhstall bauten sie zu einem Wohnhaus um, in dem sie Küche, Bad und Leben teilten. Erst sechs dieser Studentenheinis, dann zehn, jetzt 20. Zu Beginn lebten die Heinis die solidarische Idee einer neuen Zeit, doch die Menschen dazu gab es in Adendorf noch nicht.
Und auch die Kuhstallbewohner sind keine der neuen Solidarischen mehr. “Man ist weggekommen vom Kommunismus“, sagt einer der Bewohner. “Irgendwann ist es schön, wenn es nicht immer nur Wir gibt, sondern manchmal auch Ich.“ So hat nun jeder seine eigene Wohnung mit Küche und Bad. Das Wir wohnt weiter im Kuhstall, aber es kann in seine Ichs zerfallen, wenn die es so wollen.
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Eine Gemeinschaft und viele Ichs: Axel Bauer (auf dem Bild oben in der Mitte), initiierte das Wohnprojekt im Kuhstall.
© Quelle: Jacqueline Schulz
Früher warnten die Adendorfer ihre Kinder vor den Kuhstall-Hippies. Heute ist Adendorf ein wenig hipper geworden, und die Hippies wurden ein wenig adendorf’scher. Nur einen Gemeinschaftsraum und eine Küche teilen sie heute noch.
“Die Küche ist der schönste Raum, immer“, sagt Heinrich Grande. Er und seine Frau gehören zu den Alten, aber nicht zu den Kapitulanten. “Früher“, sagt Grande, “da saßen die Leute hier zusammen, weil sie nicht anders konnten. Jeden Tag, immerzu. Da kochten, aßen und sprachen sie. Dann kam der Wohlstand und jeder freute sich, endlich nicht immer aufeinanderhocken zu müssen. Aber man vergaß, sich dann und wann weiterhin zusammenzusetzen.“ Seit Jahrzehnten bauen seine Frau und er daher an einem Mehrgenerationenhaus. Wenn es fertig ist, sollen viele darin ihre eigene Wohnung haben – nur die Küche, die sollen sie teilen.
Analysen wie die Heinrich Grandes hört man viele in Adendorf. Und in jeder steckt ein Stückchen Wahrheit: Je näher das Auto die Menschen ihrer Arbeit brachten desto ferner wurden sich die Menschen. Oder: Je näher das Smartphone einander weit Entfernte brachte, desto ferner wurden sich die Nahestehenden.
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Adendorf ist ein ländliches Idyll – weit entfernt von der Großstadthektik, samt Landwirtschaft und Streuobstwiesen, Spaltung hin oder her.
© Quelle: Jacqueline Schulz
Die Adendorfer haben Maßnahmen ergriffen, die gegenwirken sollen. Und für die, sie sich darauf einlassen, wirken sie. Adendorf ist ein ländliches Idyll, Spaltung hin oder her. Nicht selten springen Rehe über die Landstraße, an ihrem Rand sitzen Füchse, um sie herum herrscht Stille. Die Natur spendet Adendorf Geborgenheit, die eine Stadt nie bieten kann. Und sie bietet Ruhe, die die Beschleunigung der Großstadt längst genommen hat.
Vielleicht mag in Adendorf nicht jeder jeden, aber erbitterten Hass gibt es keinen, ein gegenseitiges Grundvertrauen dafür durchaus. Und wer sich der Dorfgemeinschaft anschließt, lebt in festen, freundschaftlichen Beziehungen, die ehrlich und bedingungslos sind. Und die Menschen verbindet, die in der Stadt einander fremd geblieben wäre, sich vielleicht nicht einmal gegrüßt hätten.
Auch wegen Menschen wie Detlef Matthews. Er ist der Mann, der alle zusammenbringen soll. Seit 2014 ist er Ortsbürgermeister von Adendorf und Friedeburgerhütte. Das ist für die Adendorfer in Teilen dramatisch, denn Matthews lebt in Friedeburgerhütte. Die Adendorfer jedoch haben sich darauf eingestellt. Da sitzt Matthews nun in seinem Wohnzimmer, die Möbel Teil des Früher, die Frisur ebenfalls, an den Wänden Pokale, Auszeichnungen und Fotos bis ins Jetzt.
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Politik wird in Adendorf pragmatisch gedacht: Detlef Matthews ist Ortsbürgermeister von Adendorf und Friedeburgerhütte – eins von vielen Ämtern und Ehrenämtern, die er innehat.
© Quelle: Jacqueline Schulz
“Solche Auszeichnungen“, sagt Matthews, “kriegst du, wenn du hier mal ein bisschen was machst. Weil: Sonst macht es keiner. Alles Staubfänger, die Dinger.“ Das sagt viel über ihn und die Menschen im Mansfelder Land. Bloß keine Emotion, bloß keine Begeisterung. Dabei ist nur seine Stimme wenig begeistert, seine Mimik indes widerspricht ihm. Doch, da liegt Stolz in ihm. Stolz auf das, was er geschafft hat.
Matthews, das merkt, wer lange genug mit ihm redet, brennt für das, was er tut. Und das ist vieles. Kaum ein Ehrenamt, das Matthews trotz Vollzeitjob und Familie nicht besetzt. Sieben fallen ihm auf Anhieb ein. Er braucht das Zuviel, sonst ginge er kaputt am Zuwenig. Salamitaktik nennt er das, was er macht. Hier ein Scheibchen Fortschritt. Dann dort ein Scheibchen. Hier ein Verkehrsspiegel, dort ein Fundament für die Bühne von Adendorfs Rocks.
Matthews sagt Sachen wie: “So ein Scheinwerferchen kriegen wir doch auch noch hin.“ Und alle paar Sätze sagt er: “Da bin ich dran.“ Politik wird in Adendorf pragmatisch gedacht. Wer bezahlt den Putz? Dann kann der Dings damit arbeiten und der Dongs, der ist doch auch gut in so was, dann soll der da mal mit anpacken. “Denn eigentlich sind sie ganz lieb“, sagt Matthews. “Sie reden nicht viel. Sie gehen ungern raus. Aber sie sind lieb. Das muss man wissen.“
In manchen Dörfern regiert der Konflikt, in anderen die Kooperation
Vor allem muss man das wissen, wenn das nächste Mal in einer deutsch-deutschen Polit-Talkshow die Dörfer im Osten Thema sind. Wenn versucht wird, sie alle als eines zu fassen. Dörfer sind geprägt von wenigen. Von Machern wie Matthews, Weißbach, Lehmer und den Kuhstallbewohnern – oder von Kapitulanten.
In manchen Dörfern regiert der Konflikt, in anderen die Kooperation. In einigen dieses politische Lager, in anderen jenes. In einigen Dörfern schließen sich junge Aktive zusammen, in andere bleiben die Jungen aus. In einigen dominiert bis heute die Landwirtschaft, in anderen die Industrie oder die Arbeitslosigkeit. In einigen regiert der Stillstand, in anderen der Fortschritt.
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Die Zeit steht still: Ein junges Paar zieht nach Adendorf – und bis zum Morgengrauen ist alle Spaltung vergessen.
© Quelle: Jacqueline Schulz
Kein Dorf ist wie das andere, nur weil es Dorf ist. Und keines ist ohne Wandel – welcher Art auch immer. Am Tag nach dem Besuch bei Matthews lädt ein Teil dieses Wandels zur Party. Adendorf bekommt zwei neue Einwohner. Unter 40, noch kinderlos. Junges Glück im Neuanfang. Sie werden mit darüber entscheiden, wie es mit Adendorf nun weitergeht.
Jetzt allerdings gibt’s erst mal Party im großen Garten. Lichterketten, Sitzgelegenheiten, Bier, Häppchen, dazu selbst gemachter Eierlikör. Die Stimmung ist ausgelassen, jeder redet mit jedem. “Wir sind wie eine große Familie.“ Die Sonne geht unter, Freunde der frisch Zugezogenen spielen Gitarre und singen. Die Umstehenden stimmen ein.
Die Zeit steht jetzt still in Adendorf, wieder einmal, und keiner denkt an Zwist, keiner an den Brief, Absender unbekannt. Er wird erst morgen wieder Thema sein, wenn die Adendorfer erwachen und feststellen, dass der Eierlikör so verdammt viel Alkohol enthielt, dass niemand ohne Kopfschmerzen das Bett verlässt.
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Abendstimmung in Adendorf
© Quelle: Jacqueline Schulz
Info: "Adendorf im Mansfelder Land ist so klein, dass wenige Schritte zurück genügen, um das ganze Dorf ins Objektiv zu bekommen" steht auf der Homepage des Dorfes. Nicht zu verwechseln ist das 103-Seelen-Dorf in Sachsen-Anhalt mit Adendorf in Niedersachsen – das ist auch schön, aber mit rund 10 000 Einwohnern bedeutend größer.
Von Julius Heinrichs (Text) und Jacqueline Schulz (Fotos)