Ach, Italien! Warum die Deutschen dieses Land so lieben – und von ihm genervt sind
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Wunderbares Ambiente, schwierige politische Verhältnisse: Die Meinung der Deutschen von Italien ist zwiespältig.
© Quelle: Getty Images
Rom. Italien, die Italiener und Italienerinnen … Diesen Stoßseufzer dürften in den vergangenen Wochen viele deutsche Fans dieses Landes ausgestoßen haben, und nicht nur sie: Auch die Schweizer und Schweizerinnen und Österreicher und Österreicherinnen, die ein ähnlich liebevoll-argwöhnisches Verhältnis zum Bel Paese haben wie die Deutschen, blicken derzeit mit einer Mischung aus Befremden und Sorge auf das, was in Rom passiert.
In der Ewigen Stadt wurde vor Kurzem die 68. (die achtundsechzigste!) Nachkriegsregierung gebildet – und es ist kein schönes Schauspiel: Forza-Italia-Chef Silvio Berlusconi erzählt von 20 Flaschen Wodka, die er von seinem Freund Wladimir Putin zum 86. Geburtstag erhalten habe, Matteo Salvini, Kopf der Lega, will zurück ins Innenministerium, die neue Regierungschefin Giorgia Meloni muss den beiden Signori erklären, dass sie „nicht erpressbar“ sei. Und dabei geht es wie immer um einflussreiche und gut bezahlte Regierungsposten und nie um das Wohl des Landes. Ein Trauerspiel.
Seit dem Sturz von Mario Draghi bestätigt die italienische Politik die vorübergehend etwas in den Hintergrund getretenen Vorurteile, die im Ausland gegenüber Italien schon immer herrschten: ewig instabil, oft unzuverlässig, gelegentlich verantwortungslos. Immer zwischen Farce und Melodrama hin- und herschwankend. „Italienische Verhältnisse“ eben, wie es in Berlin mitunter etwas herablassend heißt.
Die große Mehrheit der Italienerinnen und Italiener sieht dies gelassener. Zwar hat der Wahlsieg der Rechten im September auch viele Bürgerinnen und Bürgern in Italien konsterniert, besonders jene, die mit den siegreichen ultrarechten Populisten Melonis nichts am Hut haben. Aber die vorherrschende Meinung lautet: Sie haben die Wahlen gewonnen, also lasst sie erst mal regieren – lange wird die zerstrittene Koalition aus Meloni, Salvini und Berlusconi ohnehin nicht halten. Und am Ende wird es der weise Mann im Quirinalspalast, Staatspräsident Sergio Mattarella, schon wieder richten.
Mit anderen Worten: Die Lage in Italien ist wieder einmal hoffnungslos, aber nicht ernst.
Nichts ist schwerer auszurotten als Vorurteile und Klischeevorstellungen – besonders dann, wenn sie immer von Neuem bestätigt werden wie jetzt in Rom. Und nichts ist schwieriger, als über nationale Eigenschaften zu schreiben, ohne selber Gemeinplätze zu verbreiten. Fest steht nur: Die kulturellen Unterschiede zwischen Italien und den deutschsprachigen Ländern im Norden sind viel größer, als es aufgrund der geringen geografischen Distanzen und des regen wirtschaftlichen und touristischen Austausches zu vermuten wäre. Die Italienerinnen und Italiener ticken in vielerlei Hinsicht völlig anders. Das beginnt beim Verhältnis zur Politik: Der Staat und die Politiker werden als Fremdkörper, als Unterdrücker wahrgenommen. Das führt zu einem Abwehrreflex gegen alles Staatliche. Aber wenigstens legt der Gesetzgeber die Latte meist so hoch, dass man notfalls unten durchschlüpfen kann.
Das Leben der Italienerinnen und Italiener spielt sich nicht im öffentlichen Raum, sondern im Privaten ab – in der Familie, im Freundeskreis, in der „Bar Sport“, am Strand, im gemeinnützigen Verein, auf oder neben dem Fußballfeld.
Wahrscheinlich liegt im familiären Wesen der Italienerinnen und Italiener der eigentliche Ursprung der deutschen Italien-Sehnsucht: das Informelle der persönlichen Beziehungen, eine gewisse Leichtigkeit des Seins, die daraus resultierende Kreativität und Improvisationskunst, die Großzügigkeit und Offenheit der Italienerinnen und Italiener – kombiniert mit der „grande bellezza“, die das Land zu bieten hat. Und dann noch diese Küche und dieses Klima. Dem Charme des „Landes, in dem die Zitronen blühn“ konnte sich schon Johann Wolfgang von Goethe vor mehr als 200 Jahren nicht entziehen. Und heute hat wohl jeder und jede Deutsche in seinem und ihrem Wohnort seinen „Lieblingsitaliener“, wo er und sie Pizza und Pasta essen geht und dabei für einige Stunden ein wenig „Italianità“ genießen kann.
Gleichzeitig existieren auch tief sitzende Negativvorurteile gegenüber den Italienern und Italienerinnen: Vielen Deutschen gelten sie – bei aller Sympathie für ihre Sonnenseiten – als arbeitsscheu, korrupt und mitunter sogar mafiös. „Der Spiegel“ hat den italienischen Mann einmal halbironisch als „parasitäre Lebensform“ beschrieben. Dabei wird oft vergessen, dass Italien mehr in die Kassen der EU einzahlt, als es erhält – das Land ist ebenso Nettozahler wie Deutschland. Und von faul kann schon gar keine Rede sein: Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) beträgt die durchschnittliche jährliche Arbeitszeit in Italien 1779 Stunden, während sie bei den Deutschen bei 1371 Stunden pro Jahr liegt.
Als besonders beleidigend empfinden es die Italienerinnen und Italiener, wenn ihr Land mit der Mafia gleichgesetzt wird. Die allermeisten Italiener und Italienerinnen sind keine Mafiosi, sondern – wenn schon – ihr Opfer: Im jahrzehntelangen, mutigen Kampf gegen die Clans haben unzählige Richterinnen und Richter, Polizisten und Polizistinnen, Staatsanwälte und Staatsanwältinnen, Unternehmer und Unternehmerinnen, Priester, Journalisten und Journalistinnen und engagierte Privatpersonen ihr Leben verloren. Unter anderem auch der Bruder von Sergio Mattarella, der 1980 vor den Augen des heutigen Staatspräsidenten von der Cosa Nostra erschossen wurde. Diese mutigen Menschen sind die Helden und Heldinnen und Vorbilder Italiens, nicht die Bosse.
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Machtwechsel in Rom: Mario Draghi übergibt sein Amt an Giorgia Meloni.
© Quelle: IMAGO/NurPhoto
Positive und negative Vorurteile gibt es auch in umgekehrter Richtung – und die negativen werden derzeit ebenfalls bestätigt. Die Entscheidung der deutschen Regierung, die eigenen Bürgerinnen und Bürger und vor allem die eigenen Unternehmen mit 200 Milliarden Euro gegen die gestiegenen Gaspreise zu schützen und gleichzeitig den von Draghi und 14 Staaten geforderten gemeinsamen europäischen Preisdeckel zu blockieren, wird in Italien als unsolidarisch angesehen. Italien und viele andere EU‑Mitglieder haben nicht die finanziellen Möglichkeiten Deutschlands, und ihre Unternehmen, die künftig mit höheren Energiepreisen konfrontiert sein werden als die deutsche Konkurrenz, werden einen klaren Wettbewerbsnachteil haben.
Da ist er wieder, in den italienischen Augen, der deutsche Hang zum Egoismus und zur Besserwisserei: Den armen Ländern im Süden macht Berlin Sparvorschriften, aber wenn es für Deutschland selbst ernst wird, dann gelten die Budgetregeln plötzlich nicht mehr. Der deutsche „Doppelwumms“ wird in Italien als ungleich gefährlicher für den Zusammenhalt der EU angesehen als die eigene neue Rechtsregierung – und er gibt den Rechtspopulisten Argumente, gegen Deutschland und die EU zu wettern.
Alte Abwehrreflexe gegen „arrogantes Deutschland“
Unvergessen ist in Italien auch, dass Berlin beim Ausbruch der Pandemie im März 2020 als erstes die Lieferung von Schutzmasken eingestellt und sich, während in Bergamo die Corona-Toten dutzendweise mit Lastwagen abtransportiert wurden, monatelang gegen die Schaffung von sogenannten Corona-Bonds der EU zur Bewältigung der existenziellen Krise gestemmt hat. Dass sich die Deutschen in dieser tragischen Situation als Chefbuchhalter der EU aufführten, empfanden die Italienerinnen und Italiener als schändlich. Zudem hat es in Italien den alten Abwehrreflex gegenüber dem „arroganten deutschen Hegemon“ wachgerufen: Die EU werde von den Interessen Berlins gelenkt, und der gemeinsame Markt sei letztlich nichts anderes als eine Art „Groß-Deutschland 2.0″.
Später hat dann die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel den Weg frei gemacht für den großzügigen Wiederaufbaufonds der EU und damit auch zu den umstrittenen gemeinsamen Anleihen – und hat damit bei den Italienerinnen und Italienern viel Sympathien für Deutschland zurückgewonnen.
Das deutsch-italienische Verhältnis war schon immer ein kompliziertes: Es ist von gegenseitiger Wertschätzung und gleichzeitig von tiefem Argwohn geprägt. Man könnte es etwas plakativ so ausdrücken: Die Deutschen lieben die Italienerinnen und Italiener (für ihren Lebensstil und ihr schönes Land), aber sie respektieren sie nicht.
Die Italiener und Italienerinnen wiederum respektieren die Deutschen (für ihre Perfektion und ihr Organisationstalent), aber sie lieben sie nicht.
Der langjährige Deutschland-Korrespondent des „Corriere della Sera“, Paolo Valentino, hat unlängst von einem Erlebnis erzählt, das ihm in den ersten Wochen nach seiner Ankunft in Berlin widerfahren war. Er sei im Grunewald joggen gegangen und habe dort ein deutsches Ehepaar angetroffen, das ihn sogleich gerüffelt habe: Er renne auf der linken statt auf der rechten Seite des Waldwegs. „Das war die erste Lektion in meiner neuen Heimat: Ihr Italiener respektiert die Regeln nicht – und seien es Regeln, die es gar nicht gibt.“ Treffsicherer hätte Valentino das italienische Befremden gegenüber Deutschland und den Deutschen kaum beschreiben können.