Afghanische Ortskräfte: Die Vergessenen

Ein Transportflugzeug der Bundeswehr am 23. August 2021 nach der Landung in Taschkent. Einige ehemalige afghanische Ortskräfte, die mit solchen Fliegern evakuiert wurden, warten noch immer auf ihre Anerkennung in Deutschland. Andere verstecken sich weiterhin in Afghanistan vor den Taliban.

Ein Transportflugzeug der Bundeswehr am 23. August 2021 nach der Landung in Taschkent. Einige ehemalige afghanische Ortskräfte, die mit solchen Fliegern evakuiert wurden, warten noch immer auf ihre Anerkennung in Deutschland. Andere verstecken sich weiterhin in Afghanistan vor den Taliban.

Berlin. Sayed Habibullah war sich immer sicher, dass Deutschland ihn nicht im Stich lassen würde. „Sie haben mir gesagt, dass sie mich hier rausholen, wenn ich in Gefahr bin“, erzählt der afghanische Familienvater. Doch diese Sicherheit ist längst der Verzweiflung gewichen.

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Fast zwei Jahrzehnte hat er zunächst für die Bundeswehr, dann für die Deutsche Botschaft und den Bundesnachrichtendienst (BND) in Kabul gearbeitet. Nun versteckt er sich mit seiner Familie vor den Taliban. Irgendwo im mehr als 650.000 Quadratkilometer großen Afghanistan – ungeschützt von den westlichen Truppen, die im August aus dem Land abgezogen sind. Habibullah heißt eigentlich anders. Doch seinen richtigen Namen oder seinen Aufenthaltsort zu verraten, könnte den Tod für ihn bedeuten.

Während Sayed Habibullah fürchtet, von den Islamisten in Afghanistan entdeckt zu werden, wohnt Abdul Malik Amini (Name ebenfalls geändert) in einem Containerdorf für Asylbewerber am Stadtrand Berlins und blickt in eine ungewisse Zukunft. Als Übersetzer für den BND hat er in Kabul mit Habibullah zusammengearbeitet. Einen Tag vor dem Ende der Evakuierungsflüge der Bundeswehr schafft er es ins sichere Deutschland. Doch anstatt ihn als Ortskraft anzuerkennen, drängen die Behörden ihn nach seiner Evakuierung dazu, einen Asylantrag zu stellen.

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Die Geschichten der beiden Männer aus Kabul stehen stellvertretend für die Geschichten vieler Afghanen, die ihre Sicherheit für das Gelingen des deutschen Einsatzes am Hindukusch riskierten. Ein Kriegseinsatz, der auch den Deutschen viel abverlangte – 59 Bundeswehrsoldaten starben und große Teilen der Bevölkerung haderten mit der Mission, weil das Grundgesetz der Bundeswehr damals den Rahmen der Landesverteidigung setzte. So kam es zu der legendären Erklärung des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck (SPD): „Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt.“

Viele Afghanen, die hier Hilfe leisteten, harren heute entweder noch in ihrer erschütterten Heimat aus oder lernen in deutschen Flüchtlingsunterkünften die schlechtesten Seiten der deutschen Bürokratie kennen. In Zeiten der Regierungsbildung, einer eskalierenden Corona-Pandemie und der Krise an der EU-Außengrenze in Polen finden sie nur noch wenig Beachtung. Doch sie zeigen, welche Verantwortung auch nach dem Ende des Afghanistan-Einsatzes auf der Bundesrepublik lastet.

Viele Jahre an der Seite der Deutschen

Sayed Habibullahs Verbindung zu Deutschland besteht schon sei fast 20 Jahren. Kurz nach Beginn des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan habe er angefangen, für das deutsche Militär zu arbeiten, sagt er in einem Telefonat mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

Seine Aufgaben: Informationen beschaffen und Treffen der Bundeswehr mit afghanischen Offiziellen organisieren. Die meisten Unterlagen, die seine Arbeit für Deutschland im Detail beweisen, musste Habibullah im August dieses Jahres vernichten, damit sie nicht den Taliban in die Hände fallen. Manche Unterlagen und Fotos konnte er jedoch digital speichern. Sie liegen dem RND vor.

Darunter ein Foto, das Mitte der 2000er-Jahre aufgenommen wurde. Es zeigt ihn, der heute Ende 50 ist, mit einem deutschen Soldaten der ISAF-Truppe und dem damaligen afghanischen Verteidigungsminister Abdul Rahim Wardak. Ein anderes Bild zeigt Habibullah und den deutschen Soldaten zu zweit. Vertraut und demonstrativ die Hände haltend. Auf Männer wie ihn verließ sich die Truppe bei ihrem Einsatz am Hindukusch.

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Kurze Zeit nachdem diese Aufnahmen entstanden sind, erklärt Habibullah, wechselte sein Auftraggeber: Statt für das Militär arbeitete er fortan für die Deutsche Botschaft und den dort angesiedelten Auslandsnachrichtendienst BND. Er habe politische und geheimdienstliche Informationen beschafft und Fragen des deutschen Dienstes beantwortet. Durch Übersetzer wie Abdul Malik Amini seien seine Informationen dann an die BND-Mitarbeiter in der Botschaft gelangt. Der BND will sich auf Anfrage des RND nicht zu Habibullahs Fall äußern.

In der Botschaft war man mit seiner Arbeit aber offenbar zufrieden: Im Jahr 2009 lud man ihn nach Berlin ein und buchte ihm für mehrere Tage ein Zimmer im noblen Ritz-Carlton-Hotel am Potsdamer Platz, wie er erzählt. Als Anerkennung für seine Arbeit und um Deutschland besser kennenzulernen. Dem RND liegt eine Kopie des Visums vor, das Habibullah für diese Reise ausgestellt wurde.

In den vergangenen Jahren stand Sayed Habibullah für seine deutschen Auftraggeber schließlich sogar direkt mit ranghohen Taliban-Führern in Kontakt. Gerade deshalb fürchtet er heute um sein Leben: Es sind nicht irgendwelche namenlosen Taliban-Kämpfer, die ihn im Blick haben, sondern Mitglieder der neugebildeten Regierung der Islamisten-Miliz.

Von den Führungskräften der Taliban werden selten Fotos veröffentlicht. Hier ist ein Bild von Amir Chan Motaki, Außenminister des neuen Kabinetts der Talibans, bei einer Pressekonferenz.

Von den Führungskräften der Taliban werden selten Fotos veröffentlicht. Hier ist ein Bild von Amir Chan Motaki, Außenminister des neuen Kabinetts der Talibans, bei einer Pressekonferenz.

Am Flughafen trennen sich die Wege

Abdul Malik Amini stieß erst später zum BND. Nach seinem Germanistikstudium an der Universität Kabul begann er 2015, als Übersetzer für den Dienst zu arbeiten. Das was Männer wie Habibullah meldeten, übersetzte er ins Deutsche. „Ich habe Informationen über politische Entwicklungen übersetzt, aber auch Anschlagswarnungen“, erklärt Amini.

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Selbst als die Islamisten im August auf Kabul vorrückten, habe er seinen BND-Kontakten noch übersetzte Botschaften weitergeleitet, sagt er. Bis zum bitteren Ende. Doch dann seien die Nachrichten plötzlich nicht mehr gelesen worden. Funkstille. Am 15. August nehmen die Taliban Kabul ein. Noch am selben Tag wird die Deutsche Botschaft evakuiert.

Neun Tage später, am 24. August, endet die gemeinsame Geschichte von Habibullah und Amini am Flughafen der afghanischen Hauptstadt. Eine Botschaftsmitarbeiterin habe ihn angerufen und aufgefordert, schnell zum Flughafen zu kommen, erinnert sich der Übersetzer Amini. Zum Packen bleibt ihm keine Zeit. Mit dem, was er am Körper trägt, macht er sich auf den Weg. Seine beiden Kinder, zwei und vier Jahre alt, lässt der seit 2019 verwitwete Vater aus Sicherheitsgründen bei der Großmutter.

Auch sein Kollege Habibullah kommt zum Flughafen, er bringt seine 13-köpfige Familie mit. Beide schaffen es auf das Flughafengelände, Abdul Malik Amini schließlich auch auf einen der letzten Evakuierungsflüge der Bundeswehr ins usbekische Taschkent und anschließend mit der Lufthansa weiter nach Frankfurt am Main.

Sayed Habibullah und seine Familie schaffen es nicht. Ihre Namen hätten nicht auf den Listen der Bundeswehrsoldaten gestanden, sagt er. Statt ins sichere Exil zu fliegen, versteckt sich die Familie. Noch auf dem Gelände des Flughafens, erklärt Habibullah, vernichtet er die meisten Dokumente, die seine Arbeit für Deutschland beweisen. Zu groß ist seine Sorge, dass er außerhalb des Flughafens in eine Kontrolle der Taliban gerät.

Warten und Ungewissheit

Für die Familie Habibullah beginnt die Flucht im eigenen Land, für Amini die Zeit des Wartens und der Ungewissheit im sicheren Deutschland. In Frankfurt erhält er ein Visum nach Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetzes, der die für ehemalige Ortskräfte angewandte Aufnahme aus humanitären Gründen regelt. Anschließend wird er zunächst in eine Erstaufnahmeeinrichtung im bayerischen Bamberg und dann in ein „Anker-Zentrum“ in Augsburg gebracht.

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Doch schon bald wird ihm mitgeteilt, er würde nicht als ehemalige Ortskraft anerkannt. Stattdessen könne er aber Asyl beantragen. Abdul Malik Amini versteht die Welt nicht mehr – und die deutsche Bürokratie schon gar nicht. Denn eigentlich ist sein Fall klar: Seine Tätigkeit für den BND lässt sich leicht nachweisen, sie liegt außerdem nicht Jahre, sondern nur Wochen zurück.

Doch so wie ihm geht es zu dieser Zeit vielen Afghanen, die kurz zuvor nach Deutschland evakuiert wurden. Amini sagt, er sei unter Druck gesetzt worden: Entweder er stelle einen Asylantrag, oder man setze ihn auf die Straße. Auch das ist kein Einzelfall. Aus Brandenburg sind ähnliche Vorkommnisse durch heimliche Videoaufnahmen belegt, die die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl im Oktober veröffentlicht hat.

Dem Druck in den Bundesländern geht offenbar eine Information des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) an die Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder voraus: Im September teilt das Amt ihnen laut RND-Informationen mit, dass die Kostenübernahme des Bundes für die Unterbringung jener Afghanen, die nicht als Ortskräfte anerkannt wurden, am 27.09. ende.

Einen Asylantrag will Amini jedoch nicht stellen. Organisationen wie Pro Asyl raten bereits frühzeitig davon ab, sich diesem Druck vorschnell zu beugen. Der Schritt bringe vor allem Nachteile mit sich. Auch seine Kontakte beim BND raten ihm ab, versprechen, sich um seinen Fall zu kümmern.

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Statt in Augsburg auf die Straße gesetzt zu werden, reist Amini mit seinem gültigen Visum weiter nach Berlin. Er hofft, seine Lage dort aufklären zu können. Doch schnell stellt er auch hier fest, wie langsam die Mühlen der deutschen Bürokratie mahlen – in Berlin traditionell noch langsamer als anderswo in der Republik.

Die ersten Nächte kann er auf fremden Sofas verbringen, bei Afghanen, die er auf der Straße anspricht. Um nicht obdachlos zu werden, stellt er in der Hauptstadt schließlich doch einen Asylantrag. Nun hat er zumindest ein Dach über dem Kopf: zuerst in einer Erstaufnahmeeinrichtung, dann in einem Containercamp für Geflüchtete am Berliner Stadtrand.

Das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte und eine Juristin der Berliner Caritas nehmen sich Aminis Fall an, treten in Kontakt mit den Behörden. Doch auch von der Berliner Ausländerbehörde erhält Amini lediglich die Information, er sei nicht als Ortskraft anerkannt.

Am 9. November, elf Wochen nach seiner Evakuierung aus Afghanistan, schickt sein Kontakt beim BND Amini dann die langersehnte Nachricht: Er habe eine Aufnahmezusage erhalten. Mit einer Registriernummer in der Tasche zieht er seinen Asylantrag am nächsten Tag beim Bamf zurück. An dieser Stelle könnte das Happy End der Geschichte von Abdul Malik Aminis Ankunft in Deutschland stehen. Doch es kommt anders.

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Knapp zwei Wochen später teilt die Berliner Ausländerbehörde der Caritas-Juristin Laura Hilb noch einmal mit, dass es keine Aufnahmezusage für Amini gebe. Für die Juristin eine unerwartete E-Mail. „Durch die Rücknahme seines Asylantrages ist er aufenthaltsrechtlich in eine schwierige Situation geraten“, sagt Alexander Fröhlich vom Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte. „Er ist jetzt kein Asylbewerber mehr.“ Zugleich sei unklar, ob ihm das Bundesinnenministerium tatsächlich eine Aufnahmezusage als ehemalige Ortskraft erteilt hat. „Sein ehemaliger Arbeitgeber und das Bamf sagen, dies sei der Fall, das Bundesinnenministerium und die Ausländerbehörde verneinen das“, erklärt Fröhlich.

Amini ist verwirrt und zunehmend verzweifelt. „Im schlimmsten Fall muss er seine Aufenthaltserlaubnis nun einklagen“, sagt Laura Hilb. Willkommen fühlt Amini sich in Deutschland nicht. Er hatte der Bundesrepublik stets vertraut. Und er würde hier gerne Fuß fassen, noch besser Deutsch lernen, eine Ausbildung als Altenpfleger machen. Und dann so schnell wie möglich seine zwei kleinen Kinder nachholen. Wann er das kann, weiß er nicht, das weiß zurzeit niemand.

Vergebliches Warten auf Hilfe

Während Abdul Malik Amini seit Ende August mit mehr deutschen Behörden in Kontakt steht als ihm lieb ist, hört Sayed Habibullah gar nichts mehr aus Deutschland. Wenige Tage nach dem Ende der deutschen Evakuierungsflüge wendet er sich an das Auswärtige Amt und schildert seine bedrohliche Lage in Afghanistan. Eine Reaktion habe er darauf nie erhalten, sagt er. Der Fall sei bekannt, teilt eine Sprecherin des Auswärtigen Amts auf RND-Anfrage lediglich mit. Zu Details will man sich in Berlin aber nicht äußern. Der BND äußert sich grundsätzlich nicht zu einzelnen Personen.

Im November sind erstmals seit der Machtübernahme der Taliban hochrangige deutsche Diplomaten zu Gesprächen mit den Islamisten nach Kabul gereist. Mittlerweile werden auch wieder Ortskräfte mit Charterflügen direkt aus Afghanistan nach Deutschland gebracht. Es besteht also Grund zu Hoffnung. Doch Habibullah und seine Familie wissen nicht einmal, ob Deutschland sie überhaupt anerkennen wird. Auch das ist kein Einzelfall.

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„Ortskräfte, die noch in Afghanistan sind und vor acht bis zwölf Wochen Anträge auf Anerkennung als Ortskraft gestellt haben, erhalten entweder keine Antwort oder werden mit E-Mails und Anrufen hingehalten“, sagt Alexander Fröhlich. „Diese Menschen warten teilweise seit einem Vierteljahr auf die Entscheidung, ob sie nach Deutschland kommen dürfen.“

Es sind noch immer tausende Ortskräfte und deren Familienangehörige in Afghanistan.

Alexander Fröhlich,

Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte

Die Bundesregierung müsse mehr für sie tun, fordert er. „Es sind noch immer tausende Ortskräfte und deren Familienangehörige in Afghanistan.“ Die Zahl der pro Woche Evakuierten müsse deutlich erhöht werden.

Die Zeit drängt. Der bevorstehende Winter droht die Lage für Binnenflüchtlinge noch zu verschärfen. Erst kürzlich mussten Sayed Habibullah und seine Familie erneut das Versteck wechseln und sie wissen nicht, wie lange sie diese Flucht noch finanzieren können. Ihr Appell an Deutschland ist sehr klar: „Holt uns hier raus, bevor wir tot sind.“

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