An der Front von Luhansk: Der sichtbare Feind
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Mitglieder der Verteidigungseinheiten von Kiew trainieren in einem Industriegebiet der ukrainischen Hauptstadt.
© Quelle: Getty Images
Luhansk. Im Kommandostand herrscht angespannte Ruhe: Draußen bricht die Dämmerung an, noch feuern die Separatisten nicht. Doch wenn es dunkel wird, startet der Beschuss: „Bis zum Morgen schlagen dann jede Stunde zwei bis drei Artillerie- oder Mörsergranaten ein“, sagt Soldat Sergij.
Er gehört wie seine Kameraden zur 24. mechanisierten Brigade der ukrainischen Armee im südlichen Abschnitt der sogenannten Kontaktlinie zwischen regulären ukrainischen Truppen und den prorussischen Rebellentruppen – andernorts würde man Front sagen.
Im Eis, nur wenige Schritte neben dem Gebäude im verlassenen Örtchen Zolote, in dem der vorgeschobene Horchposten untergebracht ist, steckt das Leitwerk einer Mörsergranate mit den charakteristischen Flügeln. Die Wirkung früherer Einschläge ist gut sichtbar: Die meisten Fenster sind zerstört, einige Fensterrahmen sind komplett herausgesprengt.
In den noch genutzten Räumen haben die Soldaten die leeren Fensteröffnungen mit Munitionskisten verbarrikadiert. In den leeren halten nur alte Säcke des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR den schneidenden Wind ab.
Parolen und Heiligenbilder
Drinnen stinkt es nach Fäkalien. Von der Decke hängen kleine Herzen in den ukrainischen Farben blau und gelb. An die Wänden sind Durchhalteparolen neben Heiligenbildern und Kinderzeichnungen gepinnt. „Tote hatten wir in den letzten Monaten nicht, aber drei Verletzte durch Granaten“, berichtet Sergij einer Gruppe von ausländischen Journalisten, die auf Einladung der US-Botschaft in Kiew den Frontabschnitt besichtigen. Seinen vollen Namen sollen die Reporter nicht kennen, ebenso wenig wie seinen Rang. Auch die Truppenstärke und die Bewaffnung der Einheit ist geheim. Man will dem Feind so wenige Informationen wie möglich zukommen lassen.
Der Feind, das sind am südlichen Frontabschnitt im Bezirk Luhansk zwei Armeekorps der Separatisten mit je 13 .000 bis 18. 000 Mann, 30 bis 40 Kampfpanzern und etwa 100 gepanzerten Mannschaftsfahrzeugen, erklärt Brigadegeneral Dmytro Krasylnikow, der die gesamten Truppen im Süden kommandiert – die sogenannte Pivnich-Einsatzgruppe mit nach eigenen Angaben rund 20. 000 Soldatinnen und Soldaten.
Gelenkt werden die beiden Separatistenkorps von der 8. Armee der regulären russischen Armee, ist der General überzeugt. Diese ist wiederum Teil des massiven russischen Aufmarsches an der russisch-ukrainischen Grenze, die keine 50 Kilometer entfernt ist.
Abwehrmöglichkeiten der Ukraine sind limitiert
In den vergangenen Monaten hatten die Russen an mehreren Schwerpunkten laut ukrainischen und amerikanischen Geheimdienstberichten auf Basis von Satellitenaufnahmen rund 100 .000 Mann sowie Hunderte Panzer und anderes Kriegsgerät zusammengezogen. Zuletzt wurden auch verstärkt Kampfflugzeuge und Hubschrauber in die Nähe der Front verlegt. Die Amerikaner schätzen das Potenzial der Russen als durchaus für eine Invasion geeignet ein.
Die Abwehrmöglichkeiten der Ukrainer auf der anderen Seite halten Experten trotz amerikanischer Waffenlieferungen für sehr limitiert. Ob ein Einmarsch bevorsteht oder nicht, weiß niemand genau – auch nicht die ukrainischen Einheiten an der Front.
Kommandant Krasylnikow gibt sich standhaft: „Wir hoffen, dass wir diesen Konflikt gemeinsam mit unseren Verbündeten friedlich beilegen können. Aber die Armee und die Menschen der Ukraine sind bereit, sich zu wehren.“ Der Kommandeur beruft sich auf in den Landesmedien verbreitete Zahlen, dass 90 Prozent der Ukrainer bereit wären, ihr Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Das darf man jedoch getrost in Zweifel ziehen, zumal ein nicht unerheblicher Anteil der Bevölkerung im Donbass im Osten der Ukraine russisch spricht und auch prorussisch eingestellt ist.
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Soldaten gehen in einem Graben an der Trennlinie, die von den von Russland unterstützten Separatisten kontrolliert wird. Russland hat an der Grenze zur Ukraine ungewöhnlich große Kontingente gefechtsbereiter Truppen sowie schwere Waffen und Drohnen stationiert.
© Quelle: Alexei Alexandrov/AP/dpa
Netze verbergen Kriegsgerät
Die 24. mechanisierte Brigade hat ihren Sitz eigentlich im westukrainischen Lwiw. Doch seit Ausbruch der Kämpfe 2014 ist sie im Oblast Luhansk stationiert. Ihr Hauptquartier hat die Brigade in einer ehemaligen Feuerwache aufgeschlagen. Links und rechts des Eingangs verdecken jetzt im Winter weiße Tarnnetze das Kriegsgerät, das ihr zur Verfügung steht.
Womit die Brigade genau kämpft – ebenfalls geheim. Von General Krasylnikow kommt nur die Standardantwort, die man überall zu hören bekommt: „Es ist ausreichend, um unsere Aufgabe zu erfüllen.“ Allerdings räumt er ein, dass er sich durchaus noch tragbare Flugabwehrraketen vom Typ „Stinger“ wünschen würde, um die kampfstarken russischen Hubschrauber stoppen zu können, sollte es zu einem Einmarsch kommen.
Noch braucht er sie allerdings nicht: Im brüchigen Waffenstillstand zwischen ukrainischer und prorussischer Seite ist ein Flugverbot vereinbart. An dieses hält sich aber auch die Ukraine nicht immer: Im Oktober zerstörte die Armee mit Hilfe einer in der Türkei gekauften Kampfdrohne eine 122-Milimeter-Panzerhaubitze auf Rebellenseite. Durch sie soll zuvor wiederum ein ukrainischer Soldat getötet worden sein.
Maskottchen „Patronenhülse“
Im Eingang des Brigadehauptquartiers liegt das Maskottchen des Brigadestabs, Hund „Hilsa“. Der Name ist treffend gewählt: Hilsa heißt auf Deutsch Patronenhülse. Im oberen Stockwerk schildert Oberst Sergij Postupalskij die aktuelle Lage: „Der Feind beschießt uns auch mit Artillerie mit laut Waffenstillstandsvertrag unerlaubten Kalibern.“ Zum Beweis werden den Journalisten Splitter einer Granate gezeigt, die von einer im Bereich 15 Kilometer östlich und westlich der Kontaktlinie unzulässigen 122-Milimeter-Haubitze verschossen worden sein soll. Kontrollieren lässt sich das freilich nicht.
Auch eine besonders perfide Waffe soll von prorussischer Seite eingesetzt werden, so Postupalskij: eine Mine, die mit Granatwerfern verschossen oder von Drohnen abgesetzt werden kann. Nach der Landung verschießt sie rundum mehrere 6,5 Meter lange Stolperdrähte. Wer sie berührt, löst den Sprengsatz aus.
Moderne Tötungsmethode
Der Oberst zeigt ein Foto dieses Minentyps. „Eigentlich explodieren die Minen nach ein oder zwei Tagen. Aber der Feind hat sie so umgerüstet, dass sie teilweise jahrelang scharf bleiben.“ Von wo die Aufnahme stammt, lässt sich ebenfalls nicht überprüfen. „Sie modernisieren ihre Methoden, Menschen zu töten, immer weiter“, sagt General Krasylnikow.
In den letzten sieben Monaten seien vier Soldaten der Brigade getötet worden: zwei durch Scharfschützen und je einer durch eine Panzerfaust und durch Artillerie. 21 Soldaten wurden verletzt. 139 Tote zählt die Brigade seit 2014. Krasylnikow berichtet auch von Soldat Andrii: Den 27-Jährigen traf die Kugel eines Scharfschütze am Kopf. „Doch durch seinen unbändigen Willen hat er überlebt und ist aus dem Krankenhaus abgehauen, sobald er wieder laufen konnte“, berichtet der General. Nur eine von zahlreichen Heldengeschichten, die den Journalisten erzählt werden.
Doch nicht alle Helden überleben: Ein anderer Soldat soll sich unter einen Rebellenpanzer geworfen und ihn dann von unten ausgeschaltet haben. Und wieder ein anderer habe sich unter Beschuss vor einen Offizier geworfen, um ihn mit seinem Körper zu schützen. Für solche Selbstaufopferungen gibt es dann posthum den Titel „Held der Ukraine.“
„Es ist immer ein großer Schmerz, wenn einer unserer Brüder fällt“
Einige Helden können dagegen noch selbst berichten: „Als in einer schweren Schlacht die Munition ausging, bin ich im Granatenhagel losgelaufen und habe Nachschub geholt“, erzählt ein junger Soldat, der den Journalisten beim Anlegen der schusssicheren Westen hilft, stolz.
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Ukrainische Panzer werden von Lastwagen auf einer Straße transportiert.
© Quelle: Andriy Dubchak/AP/dpa
Oberst Postupalskij ist ein bulliger Typ. Er ist seit 2014 an der Front und wurde selbst schon schwer verletzt. „Unsere Einheit hat mehrere von den sogenannten Rebellen besetzte Städte befreit“, berichtet er stolz. Doch der Verlust von zehn Männern unter seinem Kommando nagt sichtlich an ihm: „Es ist immer ein großer Schmerz, wenn einer unserer Brüder fällt.“ Besonders bewegend sei für ihn das Leid der Familien, wenn ein Gefallener nach Hause kommt: „In der westlichen Ukraine ist es Brauch, dass die Menschen auf die Knie gehen, wenn der Sarg vorbeikommt.“ Dann plagen den erfahrenen Soldaten auch Selbstvorwürfe. „Man denkt, man hätte mehr tun können.“ Aber ein Trost bleibt ihm: „Wir haben immerhin eine der mächtigsten Armeen der Welt aufgehalten.“
Ob das wohl noch einmal gelingt? Im Vorposten in Zolote üben die Soldaten jedenfalls zwischendurch schon einmal Zielschießen auf eine Puppe. Deren Kopf bildet ein Kissen mit aufgedrucktem Konterfei des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Doch der wird wohl eher nicht persönlich vorbeischauen. Stattdessen könnten bei einer Invasion Hunderte russische Panzer auf die Ukrainer zurollen.
600 Meter bis zum Feind
Derzeit sind die nächsten Separatistenstellungen etwa 600 Meter entfernt. Ein Schützengraben beginnt unmittelbar neben dem Gebäude, in dem der ukrainische Posten untergebracht ist. Als einige der ausländischen Journalisten ihn besichtigen wollen und einfach loslaufen, werden sie aufgehalten – zu gefährlich für Zivilisten.
Es wird immer dunkler, schon bald könnten wieder die Granaten einschlagen. Der Bus der Journalisten muss daher los, mit ausgeschalteten Scheinwerfern. Zurück bleiben die Soldatinnen und Soldaten der 24. mechanisierten Brigade.