Signal für mehr Freiheit?

„Auflösung der Sittenpolizei“: die Geschichte eines Missverständnisses aus dem Iran

Reformen im Iran? Welche Reformen? Am Montag, als Staatschef Ebrahim Raissi (Mitte) eine Sitzung seiner Regierung leitete, war von der angeblichen Auflösung der Sittenpolizei schon nichts mehr zu hören.

Reformen im Iran? Welche Reformen? Am Montag, als Staatschef Ebrahim Raissi (Mitte) eine Sitzung seiner Regierung leitete, war von der angeblichen Auflösung der Sittenpolizei schon nichts mehr zu hören.

Nein, dies war noch kein Schabowski-Moment für den Iran.

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Günter Schabowski, SED-Politbüromitglied, drehte am Rad der Geschichte, als er am 9. November 1989 im Fernsehen auftrat. „Alle Bürger der DDR“ sollten nunmehr, wie man damals in Ost-Berlin sagte, auch ohne Vorliegen von Voraussetzungen nach dem Westen reisen können. Auf die ungläubige Nachfrage, ab wann dies denn möglich sei, sagte Schabowski: „Das tritt – nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich.“

Mit diesen verdrucksten Worten begann eine Sternstunde der Deutschen. Noch am gleichen Abend fiel die Mauer.

Auch im Iran entstand soeben der Eindruck, als verberge sich hinter der etwas kryptischen Mitteilung eines Mannes aus der zweiten Reihe etwas Großes, gar Historisches.

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Irans Generalstaatsanwalt Mohammad Jafar Montazeri sprach am Wochenende von der Abschaffung der Sittenpolizei – und ließ damit Beobachter innerhalb und außerhalb des Landes aufhorchen: Kommt die Führung des Landes endlich den protestierenden jungen Leute entgegen? Darf der alte Traum von einem neuen Iran wieder geträumt werden?

Verstoß gegen Verschleierungsvorschrift: Zwei iranische Frauen zeigen sich auf einem Bürgersteig in Teheran, ohne ihr vorgeschriebenes islamisches Kopftuch zu tragen.

Verstoß gegen Verschleierungsvorschrift: Zwei iranische Frauen zeigen sich auf einem Bürgersteig in Teheran, ohne ihr vorgeschriebenes islamisches Kopftuch zu tragen.

Doch leider geht jetzt in Teheran, anders als damals in Berlin, das frustrierende Harren und Hoffen auf Freiheit weiter.

Iran: Ein allseits überhörter Hinweis aus Ghom

Montaseri hatte sich am Rande eines religiösen Treffens in der heiligen Stadt Ghom geäußert. In die Öffentlichkeit gelangten seine Worte durch die iranische Nachrichtenagentur ISNA, die eine Unterhaltung zwischen ihm und dem konservativen iranischen Parlamentsabgeordneten Jalal Rashidi Koochi wiedergab.

Koochi: „Ich habe gehört, dass die Sittenpolizei keinen Platz in dem neuen Plan haben wird, der vom Obersten Rat der Kulturrevolution vorbereitet wird.“

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Montaseri: „Die Sittenpolizei hat nichts mit der Justiz zu tun und wurde von denjenigen abgeschafft, die sie in der Vergangenheit eingerichtet haben.“

Auch ein zu tief sitzender Schleier kann gegen die Vorschriften verstoßen: Polizeieinsatz im Iran.

Auch ein zu tief sitzender Schleier kann gegen die Vorschriften verstoßen: Polizeieinsatz im Iran.

Irans Sittenpolizei: aufgelöst? Manchen Beobachtern erschien dies offenbar so sensationell, dass sie die Nachricht aus Ghom schon weiter verbreiteten, mit weltweiten Wirkungen, ohne noch ein Ohr für die Details zu behalten.

Dabei ließ Montaseri gleich in Ghom noch einen wichtigen Satz folgen: „Natürlich wird die Justiz weiterhin das soziale Verhalten in der gesamten Gesellschaft überwachen.“

Den iranischen Frauen wird es egal sein

Bei näherem Hinsehen zeigt sich also: Hier wurde weniger über eine neue Liberalität im Iran diskutiert als über neue Details der Staatsorganisation. Den betroffenen iranischen Frauen allerdings wird es egal sein, ob künftig Polizisten oder Justizbeamte die Verschleierungsvorschriften durchsetzen.

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Zugleich entpuppt sich die Formulierung „Auflösung“ der Sittenpolizei als missverständliche Zuspitzung – als würden jetzt Beamte nach Hause geschickt. Wie der amerikanische Iran-Kenner Arash Azizi festhält, beschreibt das Wort Sittenpolizei nicht etwa eine spezielle Einheit, sondern einen Auftrag, den Irans Polizei in ihrem Programm hat, definiert durch Richtlinien des Revolutionsrats.

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Wird dieser Auftrag jetzt tatsächlich geändert? Und wenn ja, wie? Nicht mal in diesem Punkt gibt es Klarheit. Irans Staatssender al-Alam betont inzwischen, von einer Abschaffung der Sittenpolizei könne keine Rede sein – „auch wenn einige ausländische Medien versucht haben, die Aussage des Generalstaatsanwalts als den Rückzug der Islamischen Republik von ihrem Hidschab-Gesetzen zu deuten“.

„Wir glauben diesen Leuten kein Wort mehr“

Die Hidschab-Gesetze wurden nach der Entmachtung des Schahs im Jahr 1979 eingeführt. Frauen, die sich ohne Kopftuch zeigen, droht seither die Verhaftung. Im September dieses Jahres hatte die 22-jährige Iranerin Masha Amini im Polizeigewahrsam einen tödlichen Kollaps erlitten. Der Fall führte zu den größten und anhaltendsten Protesten seit Jahrzehnten.

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In der iranischen Oppositionsbewegung wurden die Äußerungen Montaseris von Anfang an mit Misstrauen aufgenommen: Irans Generalstaatsanwalt gilt in ihren Kreisen als jemand, der sich schwerlich zu Rechtsstaatsthemen äußern könne, sondern eher selbst nach zahlreichen Menschenrechtsverletzungen ein Strafverfahren verdient habe.

Ein Regimegegner brachte die Stimmung dieser Tage auf den Punkt: „Wir glauben diesen Leuten kein Wort mehr – egal, was sie sagen.“

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