Auschwitz-Überlebende warnt vor Hass
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Anita Lasker Wallfisch, eine der letzten bekannten Überlebenden des Mädchenorchesters von Auschwitz, spricht während einer Gedenkstunde des Bundestags an die Opfer des Nationalsozialismus.
© Quelle: dpa
Berlin. „Ich hatte geschworen, nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen. Mein Hass auf alles was Deutsch ist, war grenzenlos“, sagt Anita Lasker-Wallfisch, fast am Ende ihrer Rede angekommen. Doch nach 44 Jahren brach sie ihren Schwur: „Ich habe es nicht bereut.“
Es ist ein beeindruckender Auftritt, den Lasker-Wallfisch, Überlebende der Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen, im Bundestag hinlegt. Die 92-Jährige spricht mit viel Kraft, findet deutliche Formulierungen. Lasker-Wallfisch übernimmt das Wort von Wolfgang Schäuble. Der Bundestagspräsident hatte zuvor in seiner Rede die Verrohung der Sprache angesprochen und daran erinnert, weshalb diese Feierstunde zum Holocaust-Gedenken seit 1996 abgehalten werde: zum Gedenken an die Toten – doch genauso zur Ehrung derjenigen, die sich nicht mit der Zerstörung durch die Nazis abfinden wollten. Schäuble wiederholt einen Satz immer und immer wieder: „An Auschwitz scheitert jede Gewissheit.“
„Plötzlich war alles zu Ende“
Kurz bevor Anita Lasker-Wallfisch ans Rednerpult tritt, spielt ihr Sohn Raphael, Cellist wie seine Mutter, das Stück „Aus Jüdischem Leben“ von Ernest Bloch. Lasker-Wallfisch hat den Wahnsinn der NS-Zeit miterlebt. Die Anfänge, als ihre Schwestern und sie in Breslau nicht mehr ins Schwimmbad durften, radikal ausgegrenzt und als „dreckige Juden“ beschimpft wurden und schließlich einen gelben Stern tragen mussten. „Plötzlich war alles zu Ende“, sagt sie. Ihre Eltern wurden nach Auschwitz deportiert und getötet, als sie 16 Jahre alt war. Dann folgten für sie Zwangsarbeit, ein Jahr Gefängnis, der Transport in das Vernichtungslager Auschwitz, abgeschorene Haare und die Nummer 69388 auf ihrem Unterarm. Nur ihr Cello-Spiel rettete Anita Lasker-Wallfisch vor dem Tod. Sie spielte in der Lagerkapelle von Birkenau und traf im Lager ihre Schwester Renate wieder, vor der sie zuvor getrennt wurde. Schließlich der Umzug in das KZ Bergen-Belsen, zusammen mit der Schwester und die Befreiung durch die Briten. Ein Zuhause hatte sie nicht mehr. So zog sie nach Großbritannien.
Ihre „Karriere als Überlebende“ nennt Lasker-Wallfisch diese Lebensepisode. All diese Erinnerungen, diese Bilder sind noch in ihrem Kopf. Es sei ihr unbegreiflich, wie der „am besten dokumentierte Genozid“ noch von einigen Menschen geleugnet werden könne.
Nach den bewegenden Schilderungen ihrer Geschichte geht die Deutsch-Britin in die Gegenwart über. Die Täter aus der NS-Zeit gebe es nicht mehr. Sie selbst gehöre zu den rapide verschwindenden Augenzeugen. Man könne es der aktuellen Generation nicht verübeln, dass sie nicht für die Verbrechen der Vergangenheit verantwortlich gemacht werden möchte. Doch schließlich ginge es nicht um Schuldgefühle, sondern um die Sicherheit, dass eine solche Katastrophe nie mehr wieder passieren kann. Alle Mitglieder des Plenums klatschen.
„Letzten Endes vergiftet man sich selbst“
Die 92-Jährige zieht eine Parallele zur Flüchtlingskrise. Anstatt, wie einst, die Grenzen abzuschotten, habe sich Deutschland verdient gemacht durch eine „unglaublich generöse, mutige und menschliche Geste, die hier gemacht wurde.“ Sie sieht dabei auf Angela Merkel, die in der ersten Reihe vor ihr sitzt. Der prüfende Blick nach rechts zur AfD-Fraktion: kein Klatschen von dieser Seite.
Lasker-Wallfischs Thema ist über Jahrzehnte hinweg der Antisemitismus geblieben. Sie sprach mit unzähligen Schülern über die NS-Verbrechen, den Schmerz, den sie erleiden musste. Mit Erschrecken stellt sie fest, dass jüdische Schulen von Polizisten bewacht werden müssen, dass Judenhass getarnt würde durch Kritik an Israel. „Aufpassen!“, warnt sie die Anwesenden. Geschichte wiederhole sich zwar nicht, dennoch sollte sie eine Warnung sein.
Ihre Empfehlung ist, miteinander zu reden: „Juden sind kein Sammelbegriff, sondern Menschen“, sagt Lasker-Wallfisch. Ins Gespräch kommen, Vorurteile abbauen. Das ist ihr Wunsch. Und dann kommt sie auf ihre eigene Fehlbarkeit zurück. Sie selbst habe alles gehasst, was Deutsch war. Es ist eine Empfehlung an alle Menschen im Saal: „Hass ist ganz einfach ein Gift. Und letzten Endes vergiftet man sich selbst.“
Von Jean-Marie Magro