Mildes Vorgehen russischer Truppen

Cherson in russischer Hand: Das besondere Schicksal der besetzten Stadt

Menschen mit ukrainischen Fahnen gehen während einer Kundgebung gegen die russische Besatzung in Cherson am 20. März 2022 auf Lastwagen der russischen Streitkräfte zu. (Archivbild)

Menschen mit ukrainischen Fahnen gehen während einer Kundgebung gegen die russische Besatzung in Cherson am 20. März 2022 auf Lastwagen der russischen Streitkräfte zu. (Archivbild)

Lwiw. Von Anfang an, als die russischen Truppen Cherson in der Südukraine im März besetzten, hatten Einwohner das Gefühl, dass die Invasoren mit ihrer Stadt etwas Besonderes vorhaben. Sie könnten sehr wohl damit richtig liegen. Es häufen sich Warnungen der ukrainischen Führung und anderer Stellen, dass Russland ein Scheinreferendum über die Umwandlung des Territoriums in eine prorussische „Volksrepublik Cherson“ plant.

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Als russische Streitkräfte Anfang April aus besetzten Gebieten um die Hauptstadt Kiew abzogen, ließen sie Horrorszenen und traumatisierte Gemeinden zurück. Aber in Cherson, einer großen Stadt mit einer beachtlichen Schiffsbau-Industrie an der Mündung des Dnjepr ins Schwarze Meer, haben die Invasoren einen anderen Kurs eingeschlagen. „Die Soldaten patrouillieren und gehen langsam herum. Sie erschießen keine Leute auf den Straßen“, sagte Olga, eine örtliche Lehrerin, in einem Telefoninterview im März, nachdem die Region von den Russen abgeriegelt worden war. Aus Furcht vor Vergeltung wollte sie nur ihren Vornamen nennen.

Aber sind der Stadt auch bislang Gräueltaten wie etwa in Butscha und Mariupol erspart geblieben, ist das alltägliche Leben alles andere als normal. Jeglicher Zugang zu Cherson ist blockiert, und die Stadt leidet unter einem Mangel an Medikamenten, vielen Nahrungsmitteln und Bargeld. Ukrainische Stellen warnen, dass eine Katastrophe bevorstehen könnte. Das ukrainische Fernsehen kann nicht mehr empfangen werden und ist durch staatliche russische Sender ersetzt worden. Auch wurden strikte Ausgangsbeschränkungen verfügt.

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Plant Russland ein Referendum wie auf der Krim?

Die Einwohner glauben, dass die Russen die Stadt bislang nicht belagert oder auf brutalste Weise terrorisiert haben, weil sie eine Bürgerabstimmung über die Schaffung einer „Volksrepublik“ ähnlich den prorussischen abtrünnigen Gebieten in der Ostukraine planen. Sie sei bis Anfang Mai vorgesehen, und die Stimmzettel dafür würden schon gedruckt, sagt die ukrainische Ombudsfrau für Menschenrechte, Ljudmilla Denisowa.

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Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beschuldigt Russland, ein Referendum zu orchestrieren, und rief die Bürger in Cherson auf, ihre persönlichen Daten vor Versuchen zu schützen, Stimmen zu fälschen. „Das ist die Realität. Seid vorsichtig“, warnte er direkt an die Einwohner gerichtet. Chersons Bürgermeister Igor Kolychaiew sagte in einem im ukrainischen Fernsehen ausgestrahlten Zoom-Interview, dass ein solches Votum illegal wäre, da die Stadt weiter offiziell ein Teil der Ukraine bleibe.

Der Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates, Olexij Danilow, bezeichnete das von russischer Seite geplante Referendum in Cherson als „juristisch und international bedeutungslos“. Die Volksabstimmung, mit der die russischen Besatzer eine „Volksrepublik Cherson“ ausrufen lassen wollten, sei ein „Klassiker“, mit der Russland seine Aktionen legalisieren wolle.

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Russland hat dazu bisher geschwiegen. Vizeaußenminister Andrej Rudenko sagte diese Woche, er habe von derartigen Plänen nichts gehört.

Russland plant wohl Einführung des Rubel als Währung in Cherson

Aber es gibt Gründe zur Besorgnis. Ein Referendum auf der Halbinsel Krim 2014 vor dem Hintergrund ihrer Annexion wird verbreitet als gefälscht betrachtet: Laut dem Ergebnis haben sich fast 97 Prozent der Wähler für einen Anschluss an Russland ausgesprochen.

Eine Reihe anderer russischer Maßnahmen hat zu einem wachsenden Gefühl der Panik in Cherson beigetragen. So berichtete Kolychaiew am Montag, dass Russen das Rathaus in Besitz genommen hätten, und am Dienstag ersetzten sie den Bürgermeister durch einen eigenen Beauftragten. Zudem gibt es Berichte, dass Russland ab Mai den Rubel als Währung in Cherson einführen will.

Auch die Einführung des russischen Rubels als Zahlungsmittel in den besetzten Gebieten sei „klassische russische Praxis“, sagte Sicherheitsratssekretär Danilow nach Angaben der Agentur Unian in der Nacht zum Freitag. Auch diese Bemühungen der russischen Seite würden nicht zum Erfolg führen. „Sie werden zwar einige Zeit versuchen, eine Währung oder Pseudo-Währung für diese Gebiete einzuführen“, sagte Danilow. Doch angesichts des zu erwartenden Widerstands der Bürger werde diese „sehr kurzlebig“ sein.

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Russland will einen Landkorridor zur Krim

Zuvor hatte ein prominenter russischer Kommandeur, Generalmajor Rustam Minnekajew, von Plänen gesprochen, die „völlige Kontrolle“ über die südliche Ukraine und die Region Donbass – das überwiegend russischsprachige industrielle Kernland in der Ostukraine – zu übernehmen, mit dem Ziel, einen Landkorridor zur Krim zu schaffen. Cherson ist eine strategisch wichtige Stadt und die Tür zu einer breiteren Kontrolle des Südens. Von hier aus könnten die Russen eine stärkere Offensive gegen andere südliche Städte wie Odessa starten.

Ist das Vorgehen der Invasoren in Cherson bislang vergleichsweise milde, kann davon in der umgebenden Region keine Rede sein. Es gibt täglich Berichte über Entführungen, Folter, Tötungen und Vergewaltigungen. Tausende Menschen sind von Strom, Wasser und Gas abgeschnitten. Die Lage im Gebiet um Cherson „ist viel schlimmer und viel tragischer“, sagt Oleh Baturin, ein örtlicher Journalist. „Es ist leichter für sie, die Kontrolle über Dörfer zu übernehmen, sie (die Einwohner) sind wehrlos.“

Russische Soldaten haben Kolychaiew zufolge auch Aktivisten, Journalisten und Kriegsveteranen entführt. Er spricht von etwa 200 Betroffenen, darunter Baturin, der aus seinem Haus in Kachowka – 90 Kilometer östlich von Cherson – verschleppt, eine Woche lang in Isolation gehalten und jeden Tag verhört wurde. Aus anderen Zellen konnte er die Geräusche von Folter hören. Nach seiner Freilassung flüchtete er mit seiner Familie aus dem besetzten Gebiet.

Viele Bewohner protestieren – aber viele verlassen die Stadt auch

Während der ersten Wochen nach dem Einmarsch der Russen versammelten sich täglich Tausende Menschen auf dem Hauptplatz in Cherson, gehüllt in ukrainische Flaggen und mit Plakaten, auf denen es hieß: „Dies ist die Ukraine“. Die Demonstrationen werden jetzt wöchentlich abgehalten. Am vergangenen Mittwoch setzten russische Soldaten Tränengas und Blendgranaten gegen Protestierende ein.

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Raketenbeschuss auf Kiew während Besuch des Uno-Generalsekretärs

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Wie Kolychaiew schildert, haben die Warnungen über ein Referendum und die anderen jüngsten russischen Schritte eine zunehmende Zahl von Einwohnern veranlasst, die Stadt zu verlassen. „Die Schlangen von Menschen sind auf fünf Kilometer gewachsen“, sagt der Bürgermeister. Insgesamt seien bislang ungefähr ein Drittel der 284.000 Einwohner geflüchtet.

Kolychaiew denkt nicht an einen solchen Schritt. Auf Facebook schrieb er am Dienstag, dass er sich geweigert habe, mit der neuen, von den Russen eingesetzten Stadtverwaltung zusammenzuarbeiten. „Ich bleibe in Cherson, mit der Bevölkerung von Cherson“, fügte er hinzu. „Ich bin an Eurer Seite.“

RND/AP/dpa

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