Der Henker vom Emsland
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Die Verbrechen Willi Herolds waren 2018 Vorlage für den Film “Der Hauptmann”, in dem Max Hubacher den falschen Wehrmachtsoffizier spielte.
© Quelle: Julia M. Müller
Leer. Es konnte kein Plan gewesen sein. Nichts, was er sich zuvor ausgemalt und durchdacht haben könnte. Es ist purer Zufall, dass der 19-jährige Gefreite Willi Herold am 3. April 1945 in einem zerbeulten Auto am Rand der Straße von Gronau nach Bad Bentheim eine Kiste findet. Und dass in dieser Kiste eine Uniform steckt. Und dass es die Uniform eines Hauptmanns ist.
Willi Herold, ein früherer Schornsteinfegerlehrling aus Lunzenau in Sachsen, hätte jetzt alle Möglichkeiten. Er könnte einfach weitergehen. Oder er könnte die Uniform anziehen und etwas Gutes tun – Menschen befreien, Exzesse verhindern. Aber er zieht die Uniform an und entscheidet sich dann ohne Not für einen anderen Weg.
Die Geschichte von Willi Herold handelt von einer Mordserie, von einem Verbrechen, wie es solche im Chaos der letzten Tage und Wochen des Zweiten Weltkriegs viele gab, als Hunderttausende Vertriebene, Befreite und Versprengte umherirrten. Sie handelt aber auch von der Lust am Morden und am Gehorsam, von der Macht eines Stückes Stoff und eines entschlossenen Auftritts. Die Geschichte könnte eine Köpenickiade sein, wenn sie nicht so grausam wäre.
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“Und dann war da dieser jungenhafte Typ”: Willi Herold.
© Quelle: dpa
Nach dem Krieg, in dem Prozess gegen ihn, wird Willi Herold beteuern, er sei kein Nazi gewesen. Er sei sogar aus dem Jungvolk geflogen, weil er lieber eine Indianerbande gründete. Wenn das stimmt, dann bleibt als Motiv wohl nur Sadismus.
Im Krieg hat Herold zunächst in Italien gekämpft. Er war bei der Schlacht von Montecassino dabei, wurde mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet, sollte dann an der Westfront den Vormarsch der Alliierten aufhalten und wurde bei Arnheim in den Niederlanden von seiner Einheit getrennt. Auf den Straßen im Emsland hat er später in seiner Hauptmannsuniform keine Mühe, Gefolgsmänner zu finden, die sich ihm anschließen. Rund 30 folgen ihm, als sie am 11. April bei Papenburg das Strafgefangenenlager Aschendorfermoor erreichen.
“Heiter, wach und intelligent”
“Der Führer persönlich hat mir unbeschränkte Vollmacht erteilt”, behauptet Herold – und wahrscheinlich sind Lagerleitung und Parteiführung sogar froh, das Kommando abgeben zu können. Das Lager, für 1000 Gefangene ausgelegt, ist mit 3000 Männern hoffnungslos überbelegt. Wenige Tage zuvor hatte es einen Ausbruchsversuch gegeben, die Leitung sieht sich unter Druck.
Und dann ist da offenbar noch ein anderer Grund, warum niemand Herold stoppt. Schon auf dem Weg nach Papenburg hatte sich eine Militärpatrouille, die nach Deserteuren suchte, von seiner Uniform und dem ebenso zackigen wie gewinnenden Auftreten blenden lassen. “Ich hatte von all den Morden gelesen”, sagt der Staatsanwalt, der ihn nach dem Krieg anklagt, in dem Dokumentarfilm “Der Hauptmann von Muffrika”. “Und dann war da dieser jungenhafte Typ, heiter, wach und intelligent. Ein äußerst ansehnlicher junger Mann.”
Die Opfer müssen “Heil Hitler” rufen - dann werden sie erschossen
Dieser junge Mann will keine Zeit verlieren, noch am selben Tag beginnt er das Morden. Einen Häftling lässt er 20 Kniebeugen machen und dann erschießen, einen anderen ertränkt er im Löschteich. “Wir waren doch vollkommen machtlos, nicht mal einen Stock hatten wir”, erklärt einer der damaligen Lagerinsassen in dem Film.
Am Nachmittag des 12. April lässt Herold vor dem Lager eine Grube ausheben. Persönlich geht er durch die Baracken und wählt vor allem jene aus, die an dem Ausbruchsversuch beteiligt waren. Die ersten 90 lässt er am frühen Abend unter einem Vorwand hinaustreiben, sie sollen sich vor der Grube aufstellen und “Heil Hitler” rufen. Dann beginnen seine Männer zu feuern – mit einem Zwei-Zentimeter-Flakgeschütz, das sie auf ein Tempodreirad montiert hatten. Als das Geschütz nach ersten Salven blockiert, werfen sie Handgranaten auf die noch Lebenden in der Grube.
Nach zehnminütigem “Prozess” fällt Herold das Todesurteil
Dann führen sie die nächste Gruppe zum Rand der Grube. Rund 170 Menschen töten Herold und seine Männer an diesem und in den nächsten Tagen. Immer wieder erschießt auch Herold selbst Männer. Zum Beispiel jene, die sich auf seine scheinbar harmlose Frage, wer aus seiner Heimatgegend komme, gemeldet hatten.
Herolds Gewaltorgie im Lager endet, als die Briten am 18. April das Aschendorfermoor bombardieren. Mit einigen Kumpanen jedoch zieht Herold weiter – nach Leer, wo er sich als angeblicher Hauptmann mit Sonderbefehl vom Bürgermeister das Recht über fünf niederländische Widerstandskämpfer ertrotzt. Nach zehnminütigem Scheinprozess fällt Herold das Todesurteil – und erschießt sie vor dem Grab, das sie sich zuvor hatten graben müssen.
Nach dem Morgen wird gefeiert
Abends betrinken sich Herold und seine Männer, feiern, zwingen Leerer Frauen dazu. Es ist eine Entgrenzung auf allen Ebenen, die Herold und seine Männer zelebrieren.
Eines der Opfer, einer der fünf Niederländer, ist der damals 28-jährige Kornelis Pieter Fielstra, ein Zimmermann aus Groningen, der mit seinen vier Begleitern und dem Segen der kanadischen Armee Zwangsarbeiter aus Deutschland zurück nach Holland schleusen sollte. Fielstra hatte damals einen eineinhalbjährigen Sohn: Kees. “Meinen Vater”, sagt er heute, “habe ich praktisch nicht kennengelernt.”
Kees Fielstras Vater, der Widerstandskämpfer Kornelis Pieter Fielstra, wurde von Herold ermordet.
© Quelle: Kees Fielstra
Die Geschichte seines Vaters war auch in seiner Familie ein Tabu. Erst 2010, aus einem Buch, hat Kees Fielstra vom Schicksal seines Vaters erfahren. Dessen Mörder, der Hochstapler Willi Herold, wurde im Mai 1945 von den Briten in Wilhelmshaven festgenommen und 1946 hingerichtet. An die fünf Holländer erinnert seit 2015 eine Gedenkplatte in Leer. “Die Reise dorthin”, sagt Kees Fielstra, “ist für mich jedes Mal ein sehr emotionaler Moment.”
Die Verbrechen des falschen Hauptmanns Willi Herold, die wirken bis heute nach.