Die Angst der Demoskopen vor dem Wahltag
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/LNSBPQB5LFCOXB5NIMOQJ2PO7I.jpg)
„Eine Umfrage ist keine Prognose“, sagt Matthias Jung, Chef der Forschungsgruppe Wahlen. „Ein Meinungsbild, das wir heute beschreiben, kann sich in drei Wochen schon wieder gedreht haben.“
© Quelle: dpa
Nur ungern lassen sich Deutschlands Demoskopen an den 6. Juni dieses Jahres erinnern. Da lief in Sachsen-Anhalt die letzte Landtagswahl vor der Bundestagswahl. Die größten Verlierer des Wahlsonntags vor einem Vierteljahr waren nicht die Schwarzen, die Roten oder die Grünen.
Es waren die Meinungsforscher selbst.
Besonders im Fall der Christdemokraten hatten sie krass danebengelegen.
– Tatsächlich erreichte Sachsen-Anhalts CDU 37,3 Prozent – den Ausschlag gab offenbar der spröde, aber als redlich anerkannte und jedenfalls allseits unterschätzte Spitzenkandidat Reiner Haseloff.
– Das Meinungsforschungsinstitut Insa hatte der CDU zwei Tage vor der Wahl nur 27 Prozent zugetraut. Andere Institute gaben der Union maximal 30 Prozent.
– Die „Bild“-Zeitung, Auftraggeber der Insa-Umfrage, trommelte, es gebe ein „Kopf-an-Kopf-Rennen mit der AfD“, die bei 26 Prozent liege – nur einen Punkt hinter der CDU.
– Am Wahlabend zeigte sich: Der Abstand der CDU zur AfD betrug nicht einen Punkt, sondern 16,5 Punkte. Kopf an Kopf geht anders.
Eine Schweigespirale zulasten der CDU?
Was ist da los? Auch die Forschungsgruppe Wahlen (Auftraggeber: ZDF) und Infratest Dimap (ARD) hatten in Sachsen-Anhalt die CDU deutlich schwächer gesehen, als sie am Ende war.
Könnte es sein, dass auch die aktuellen CDU-Umfragedaten – Infratest gibt der CDU nur noch 20 Prozent – etwas zu niedrig gegriffen sind? Fest steht nur: Vor einem Vierteljahr bekannten sich deutlich weniger Wähler zur CDU, als sie am Ende tatsächlich wählten.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/T7TEQ7EFTREGTJUZ6WVH2YZ43M.jpeg)
Völlig unterschätzt: CDU-Ministerpräsident Reiner Haseloff, Wahlsieger am 6. Juni dieses Jahres in Sachsen-Anhalt.
© Quelle: Hendrik Schmidt/dpa-Zentralbild/
Phänomene wie diese sind nicht neu. In ihrer berühmten Theorie von der Schweigespirale verwies die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann schon in den Siebzigerjahren auf die Angst der Menschen vor Isolation. Im steten Streben nach Akzeptanz beobachteten sie laufend – wie mit einem sechsten Sinn fürs Demoskopische – Stimmungen und Strömungen von Menschen um sie herum: Welche Meinungen kommen gerade gut an? Wofür bekommt man jetzt Beifall?
Die Menschen wollen per Masseninstinkt auch erspüren: Was könnte Widerspruch und Unverständnis auslösen? Bekenntnisse dieser Art trägt man irgendwann nur noch leise vor, wenn überhaupt – weil man sie ja auch von anderen kaum noch hört. Die Schweigespirale koppelt auf sich selbst zurück.
Kampf nach alten Mustern, wie bei Kohl
Unter Angela Merkel hatte die CDU kein Problem mit diesen Mechanismen. Sich zu ihr zu bekennen war kein Problem, egal in welchen Milieus. Merkel war, vor allem gegen Ende ihrer Amtszeit, dem Lagerdenken längst entstiegen.
Der bundespolitische Anfänger Armin Laschet dagegen findet sich wieder in einem knallharten Kampf nach alten Mustern, wie zuletzt Helmut Kohl.
Sozialdemokraten, Grüne und ihre Follower versuchen, einen Gegner aus der CDU – männlich, katholisch, westdeutsch – kleinzuhalten, so gut es geht, nicht durch angestrengten Streit um diese oder jene Sache, sondern eleganter: durch soziokulturelle Dominanz. Er soll lächerlich erscheinen, unmöglich, wie seinerzeit „Birne“ Kohl.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/PPJ64IJHO5DE3BPX5RKQJHGTU4.jpg)
„Birne“ Kohl auf einem „Spiegel“-Titel im Jahr 1976.
© Quelle: Spiegel 35/1976
Doch heute wie damals gibt es eine demoskopisch schwer zu klärende Frage: Sind die derzeit schweigenden Unionsanhänger dabei, tatsächlich ins andere Lager zu wechseln? Oder vermeiden sie nur das offene Bekenntnis zu einer Haltung, die sie in Wahrheit weiterhin haben? Bei Kohl war es 16 Jahre lang so: Land und Leute schimpften über ihn, aber alle vier Jahre wurde er gewählt.
„Der aktuelle Absturz der CDU ist real“
Matthias Jung, Chef der Forschungsgruppe Wahlen, kennt all diese Kuriositäten der vergangenen Jahrzehnte. Jung ist gegenwärtig der wohl renommierteste Demoskop in Deutschland, ein Mann, der blitzschnelle Gegenwartsanalysen mit ungeheurer Erfahrung zusammenbringt. Schon seit 1987 arbeitet er in dem Institut in Mannheim, das regelmäßig fürs ZDF-Politbarometer den Deutschen den Puls fühlt.
Am Freitag veröffentlichte Jung die erste Umfrage seit 19 Jahren, in der die SPD wieder vor der CDU liegt. In Berlin schlug das ein wie eine Bombe. Aber liegt darin schon eine Vorentscheidung für die Bundestagswahl?
„Der aktuelle Absturz der CDU ist real, er ist auch messbar“, sagt Jung im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Aber kein Demoskop könne daraus eine Vorhersage für die Lage in drei Wochen ableiten.
Noch vor 30 Jahren hätte Jung sich das vielleicht sogar getraut. „Da gab es nur ganz wenige Wechselwähler, 3 oder 4 Prozent der Wahlberechtigten“, sagt er. „Das waren Leute, die die ‚Zeit‘ lasen, politisch sehr gut informiert waren und vielleicht irgendwann sagten: So, jetzt wählen wir mal eine andere Partei.“ Heute dagegen schwankten viel höhere Anteile der Wahlberechtigten, häufig schlecht Informierte, in ihrem Urteil – und dies auch noch in immer kürzer werdenden Intervallen.
„Eine Umfrage ist keine Prognose“
Schon seit Jahrzehnten gibt es in Deutschland einen Trend zur Lockerung aller Bindungen, das betrifft Parteien ebenso wie Kirchen und Gewerkschaften. Die Volatilität der Stimmungen wächst, die Berechenbarkeit lässt nach.
Noch nie aber, sagt Jung, habe er es mit so schnell wechselnden Meinungsbildern zu tun gehabt wie in diesem Jahr. Erstmals gebe es im Kanzleramt niemanden, der um die Wiederwahl kämpft. Die Koalitionsperspektiven seien verschwommen. Zudem schaffe Corona eine Dauerverunsicherung. Und dann gebe es auch noch die Flut und Afghanistan.
In dieser unübersichtlichen Lage, sagt Jung, müsse man Umfrageergebnisse einfach als das nehmen, was sie sind: Beschreibungen eines Meinungsbildes in einem bestimmten Moment. Sie zu überhöhen sei ebenso verkehrt wie der Versuch, sie beiseitezuschieben.
„Eine Umfrage ist keine Prognose“, betont er. „Ein Meinungsbild, das wir heute beschreiben, kann sich in drei Wochen schon wieder gedreht haben.“ In dieser Hinsicht gebe es im Jahr 2021 eine ganz andere Taktung als vor 30 oder 40 Jahren.
Diese Schwankungen verunsichern mittlerweile nicht mehr nur die Politik, sondern auch die Meinungsforscher. Was, wenn bei der Bundestagswahl am 26. September doch wieder die CDU vor der SPD liegen sollte?
Jung schwant schon Übles: „Dann werden wir Demoskopen als Versager hingestellt.“
Die Tücken schneller Onlinepanels
Dabei gibt sich insbesondere die Forschungsgruppe Wahlen große Mühe. Jungs Teams führen Telefoninterviews. Die sind mühsamer und teurer als Onlinebefragungen, führen aber offensichtlich zu authentischeren Ergebnissen. In Sachsen-Anhalt war die Forschungsgruppe mit sieben Punkten Abstand weiter als alle anderen davon entfernt, ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und AfD zu melden.
Allensbach hält sogar an der Tradition des Face-to-Face-Interviews fest, einer mündlichen Befragung von Personen, die vorab nach Quotenvorgaben festgelegt werden. Die letzte Allensbach-Erhebung lief vom 18. bis zum 26. August und ergab für die CDU erstaunliche 26 Prozent.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/ET23NPNMDFH5XJVCWE6ETK3XEI.jpeg)
Triell bei RTL: Wer hat gewonnen? Wer hat verloren? Und wer entscheidet darüber überhaupt?
© Quelle: J��rg Carstensen/Mediengruppe RT
Insa und YouGov dagegen setzen auf reine Onlinepanels. Forsa blieb jüngst gar nichts anderes übrig, als es zum Triell auf RTL eine „repräsentative Blitzumfrage“ mit 2500 Beteiligten liefern sollte, so schnell geht es nur online. Forsa rief Scholz zum Sieger aus. Repräsentativ im klassischen Sinne, bezogen auf alle Wahlberechtigten, diverse Altersgruppen und Bildungsgrade, kann und will ein Onlinepanel unter RTL-Zuschauern natürlich niemals sein.
Doch wen interessiert das? „Bild“ titelte am nächsten Morgen: „Scholz klar vorn, Laschet abgeschlagen hinter Baerbock.“
Oft bewegt gar nicht so sehr eine einzelne Umfrage die Menschen, sondern erst das, was andere aus ihr machen.