Drei Warnzeichen für Putin: Endet seine Ära?
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Alles hat seine Zeit: Büsten, die Wladimir Putin und den sowjetischen Diktator Josef Stalin darstellen, werden in einem Souvenirladen in Moskau zum Verkauf angeboten.
© Quelle: Dmitri Lovetsky/AP/dpa
Wladimir Putin tat wieder mal so, als gingen ihn Russlands Miseren nichts an. Darin hat der Kremlchef mittlerweile Übung.
Als Russlands Armee in dieser Woche ihren peinlichen Rückzug aus Cherson verkündete, sah man den russischen Präsidenten im Staatsfernsehen angeregt mit Wissenschaftlern und Ärzten über neue Ergebnisse der Hirnforschung plaudern, bei einem Besuch des russischen Zentrums für Neurotechnologie.
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Zu Gast bei Hirnforschern: Wladimir Putin am 9. November 2022 im Moskauer Zentrum für Neurotechnologie.
© Quelle: IMAGO/ITAR-TASS
Die Hinwendung zur Hirnforschung war eine kolossale Verdrängungsleistung – als hätten Land und Leute schon völlig vergessen, was in der Nacht zum 1. Oktober geschah. Da feierte Putin auf dem Roten Platz bei einer Massenkundgebung die völkerrechtswidrige Annexion der ukrainischen Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson. Ihr Anschluss an Russland, tönte Putin, sei ein unumkehrbarer Schritt: „Sie gehören jetzt zu Russland, für immer.“
Im Fall von Cherson löste sich Putins Für-immer-Ansage schon nach fünfeinhalb Wochen in Luft auf.
Am 9. November stießen ukrainische Truppen von Norden her in die Region Cherson vor, während die Russen den Rückzug antraten. Am 12. November tanzten in der Stadt am Dnjepr die von den Besatzern befreiten Bürgerinnen und Bürger bis in die Nacht um ukrainische Militärfahrzeuge und herzten die Soldaten.
Alles kein Thema für den Kremlherrn?
Mit seinen Ablenkungsversuchen folgt Putin einem mittlerweile bekannten Muster. Als es zuletzt Mitte September eng wurde für die russische Armee, gefiel es ihm, in Moskau einen Vergnügungspark zu eröffnen. Zur gleichen Zeit gerieten eine Flugstunde entfernt russische Soldaten in ihren Stellungen nahe Charkiw angesichts vorrückender ukrainischer Truppen massenhaft in Panik, viele warfen gar ihre Uniformen weg und machten sich auf gestohlenen Fahrrädern davon.
Putin indessen stand in Moskau milde lächelnd vor einem Riesenrad und beschrieb es im Staatsfernsehen stolz als „das größte in Europa“.
Wie oft wollen die Russen sich diese ebenso systematische wie groteske Flucht ihres Staatschefs aus der Verantwortung noch bieten lassen? Heute wie damals überließ Putin es seinen militärischen Führern, die schlechten Nachrichten von der Front zu überbringen.
Immerhin: Die jahrelange Apathie vieler Russen scheint schrittweise nachzulassen, auch politisch nicht sonderlich Interessierte entdecken auf einmal gewisse Gegensätze zwischen Putins PR und den Realitäten.
Es sind neuerdings nicht mehr nur prowestliche Putin-Kritiker, die sich empören. Inzwischen gibt es lagerübergreifend ein zunehmendes Kopfschütteln über den Kreml-Chef. Genau hier liegt das erste von drei Warnzeichen für Putin, die plötzlich gleichzeitig blinken.
Warnzeichen eins: Nationalisten werden unruhig
Russische Liberale und Bürgerrechtler, klarer Fall, sehen Putin seit Langem auf Abwegen. Viele von ihnen, vom früheren Unternehmer Michail Chodorkowski über den Nawalny-Vertrauten Leonid Wolkow bis zu der Juristin und Menschenrechtlerin Ljubow Sobol, sind aber nur im Ausland aktiv. Sie haben zwar ein wachsendes russisches Publikum im Internet, dank der sprunghaft gewachsenen Nutzung von VPN-Apps. Jedoch ist ihr direkter Einfluss auf das Geschehen in Russland gering.
Neu ist aber, dass zunehmend auch das nationalistische Lager innerhalb Russlands auf Distanz zu Putin geht. Drei bekannte politische Figuren von rechts wagen sich inzwischen erstaunlich weit vor.
- Jewgeni Prigoschin, Chef der paramilitärischen Kampfgruppe Wagner, erlaubte sich im Oktober offene Kritik an dem von Putin in der Ukraine eingesetzten Generaloberst Alexander Lapin. Putin feuerte Lapin daraufhin. Beobachter sprachen von einem Bauernopfer, das Putin gebracht habe, um eine Diskussion über seine eigene Verantwortung für die militärischen Probleme Russlands in der Ukraine zu vermeiden.
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Ein Mann mit eigenen Truppen – und eigenen Ansichten: Jewgeni Prigoschin, Chef der russischen Söldnerfirma Wagner.
© Quelle: Imago
- Ramzan Kadyrow, der militante Chef der russischen Teilrepublik Tschetschenien, übte offene Kritik an Putin: Der russische Präsident habe vier ukrainische Regionen annektiert, bevor er sie überhaupt komplett erobert habe. Dies bewirke Chaos. Ganz Russland staunte über den scharfen Ton Kadyrows. Ebenso wie Prigoschin schöpft Kadyrow sein Selbstbewusstsein daraus, dass er eigene Truppen befehligt, die nicht in das Kommandosystem des russischen Staats eingebunden sind.
- Alexander Dugin, der im Westen jahrelang oft als „Putins Philosoph“ vorgestellt wurde, schrieb nach dem Rückzug aus Cherson, ohne Putin beim Namen zu nennen: „Autokratie hat einen negativen Aspekt. Ungeteilte Macht im Erfolgsfall, aber auch volle Verantwortung beim Misserfolg.“ Dugin machte sogar düstere Andeutungen in Richtung Tyrannenmord: „Wir geben dem Souverän die absolute Machtfülle, um uns alle – das Volk und den Staat – zu schützen. Was ist, wenn er uns nicht beschützt? Dann erwartet ihn das Schicksal des Regenkönigs (siehe Frazer).“ Dugin bezieht sich mit diesem Hinweis auf ein Buch des schottischen Religionsforschers James Frazer („The Golden Bough“). Darin wird beschrieben, wie ein König getötet wird, weil er während einer Dürre keinen Regen bewirken kann.
Warnzeichen zwei: „Revolutionäre“ machen mobil
Eine wachsende Zahl von Russen im In- und Ausland will nicht mehr nur politisch gegen Putin vorgehen, sondern auch zu den Waffen greifen. Die Gruppen, in denen so gedacht wird, scheinen sich zunehmend zu vernetzen. So fand Anfang November in Warschau eine Konferenz von 65 Vertretern russischer Widerstandsgruppen statt – Thema: „Russland ohne Putin“.
Einer der Organisatoren, der frühere Duma-Abgeordnete Ilya Ponomarev, sprach bereits im Oktober gegenüber dem amerikanischen Magazin „Newsweek“ von der Notwendigkeit einer „neuen russischen Revolution“.
Ponomarev hatte im Jahr 2014 als einziger Abgeordneter des russischen Parlaments gegen die damalige Annexion der Krim gestimmt; wenig später sah er sich veranlasst, sich ins Ausland abzusetzen. Auf Twitter pflegt Ponomarev inzwischen einen ruppigen Ton. An diesem Wochenende schrieb er: „Eines Tages werden Hunderttausende Russen auf die Straße gehen, aber das werden Zivilisten sein. Und unter diesen Hunderttausenden sollen mehrere Tausend Menschen mit Waffen sein. Dann werden diese Hunderttausende verstehen, dass sie nicht unbewaffnet gegen die Bullen sind.“
Nach Angaben Ponomarevs dienen derzeit mehrere Tausend russische Soldaten in der ukrainischen Armee. In ihnen sieht er die mögliche Vorhut einer Bewegung, die unter den russischen Soldaten in Russland zu einem Umdenken beitragen soll – und zu einem Aufstand gegen Putin.
Warnzeichen drei: Das Staatsfernsehen ist ratlos
Seit dem von Putin befohlenen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat das russische Staatsfernsehen alle Windungen und Wendungen brav und gelenkig mitgemacht. Eine Zeit lang wurde das Märchen verbreitet, die „militärische Spezialoperation“ richte sich gegen ukrainische Biolabors, in denen schon Viren lauerten, die speziell darauf programmiert seien, nur Russen krank zu machen und zu töten. Immer wieder war auch von Nazis die Rede, von einem Kampf gegen die Nato, gegen das Böse und nicht zuletzt auch, kein Witz, gegen Satan selbst.
Für den Rückzug aus Cherson aber hat das russische Staatsfernsehen noch keine einleuchtende Erklärung gefunden. Anfangs behalf man sich mit der Theorie, die russischen Soldaten hätten die Stadt verlassen, um auf dem linken Dnipro-Ufer „vorteilhaftere Stellungen“ zu beziehen. Jederzeit könne man ja von dort auch wieder nach Cherson zurückkehren. Dazu passte allerdings nicht, dass die Russen nach ihrer Flucht aus Cherson mehrere Brücken über den Fluss sprengten.
Auch militärischen Laien ist längst klar, dass Russlands Rückzug unter Druck geschah: Die rechts des Dnipro stationierten russischen Soldaten waren zuletzt immer stärker von Nachschubwegen abgeschnitten worden und drohten auf Dauer von ukrainischen Truppen eingekesselt zu werden.
Russland hatte, wenn man ehrlich ist, ein militärisches Kräftemessen verloren. Feststellungen dieser Art aber gehen in Russland natürlich nicht über den Sender. Was aber soll man ersatzweise sagen? Stöhnend steigerte sich der prominente Putin-Propagandist Wladimir Solowjew jüngst in eine bizarre Wutrede hinein, mit viel Aggressivität und wenig Kohärenz. Mal rügte er den Westen, der Russland „in einem religiösen Krieg“ vernichten wolle. Mal führte er die russischen Armeeführer als Deppen vor: „Habe ich nicht schon im Februar gesagt: Sprengt die Brücken, vernichtet die Infrastruktur?“
Der Eindruck einer auch in den Studios des Staatsfernsehens um sich greifenden Ratlosigkeit wollte aber nicht weichen. Dazu trug jüngst noch ein erstaunlich mutiger Beitrag des Moderators Andrei Norkin bei, der sich sogar erfrechte, auf die fehlende Meinungsfreiheit in Russland anzuspielen: „Wenn ich die Entscheidung zum Rückzug aus Cherson lobe, stelle ich öffentlich Russlands territoriale Integrität infrage, das ist eine Straftat. Wenn ich den Rückzug kritisiere, kann man mir die öffentliche Diskreditierung der russischen Streitkräfte vorwerfen, das ist ebenfalls strafbar. Was also soll ich sagen? Ich habe keine Lust, ins Gefängnis zu gehen.“
Dass Putins Staatsfernsehen tagelang zwischen Seufzen, Stotterei und säuerlicher Satire schwankt, ist neu – und ebenfalls ein Warnzeichen für den Staatschef, dem es doch ergeben dienen soll. Brechen jetzt etwa die letzten soziokulturellen Dämme, die bislang auch in schlechten Zeiten noch immer gehalten und dazu beigetragen haben, dass die Leute sich im Sinne des Kremlchefs zusammengerissen haben? Die Zukunft wird es zeigen. Vielleicht war der Rückzug aus Cherson die eine Blamage zu viel, etwas, das in Russland keiner mehr seinen Landsleuten erklären kann oder will.