Eine coole Philosophie für die Corona-Krise

Nur eine Stunde Sport war zeitweise in Perth erlaubt. Die Zumutung für die Bürger war immens, der Erfolg aber auch: Mit stoischer Ruhe und viel Selbstdisziplin konnten die Australier inzwischen die Sieben-Tage-Inzidenz auf null senken.

Nur eine Stunde Sport war zeitweise in Perth erlaubt. Die Zumutung für die Bürger war immens, der Erfolg aber auch: Mit stoischer Ruhe und viel Selbstdisziplin konnten die Australier inzwischen die Sieben-Tage-Inzidenz auf null senken.

Berlin. Sonne, 15 Grad, milde Frühlingsluft nach einem eisigen Morgen. So sah es am Mittwoch voriger Woche am Wannsee aus.

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Im Radio lief gerade die Meldung, im Kanzleramt beginne gleich die seit Wochen mit Spannung erwartete Corona-Konferenz der Kanzlerin mit den 16 Ministerpräsidenten.

Der in Berlin lebende Philosoph Wilhelm Schmid nutzte den Tag auf seine Art. Er blickte aufs Wasser. Der 67-Jährige hat eine Lieblingsstelle dafür, in der Nähe des Fähranlegers, wo stündlich ein Schiff nach Kladow fährt.

Zur Ruhe finden in vertrauter Umgebung: Wer soll so etwas tun, wenn nicht er? Für ihn gehört es zur Berufsehre.

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Schmid, Philosophieprofessor im Ruhestand, hat Millionen von Lesern seiner mittlerweile zwei Dutzend Bücher immer wieder Lebenskunsttipps gegeben. Seine Bücher tragen Titel wie „Glück“, „Gelassenheit“ und „Mit sich selbst befreundet sein“. Vor wenigen Tagen erschien sein jüngstes Buch: „Heimat finden – vom Leben in einer ungewissen Welt“. Da geht es auch viel um Corona. Was sagt einer wie er zu den Aufregungen dieser Tage?

Deutschland müsste mehr Philosophie wagen

Schmid atmet tief durch und benennt ein Defizit, auf das die meisten Normalbürger nicht kommen würden. Politiker aber auch nicht. „Der größte Mangel, den Deutschland gerade erlebt“, sagt Schmid, „ist der Mangel an Philosophie.“

Der Philosoph und Buchautor Wilhelm Schmid meint: Wir reden zu viel und denken zu wenig.

Der Philosoph und Buchautor Wilhelm Schmid meint: Wir reden zu viel und denken zu wenig.

Zwar werde tagein, tagaus über die Corona-Krise geredet – morgens beim Bäcker, abends in den Talkshows im Fernsehen; jeder lasse jeden wissen, wie sehr ihm die Krise zu schaffen mache –, doch über die vor die Klammer zu ziehende Frage, ob diese Daueraufregung die richtige Art des Umgangs mit der Krise sei, werde viel zu wenig nachgedacht.

Was also tun? Als Erstes, glaubt Schmid, müssten alle mal einen Gang runterschalten. Denn gegenseitige Schuldzuweisungen verstärkten dummerweise noch die Wirkungen der Corona-Krise.

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Schmid steht nicht allein da mit seiner Analyse. Psychologen sehen in Deutschland seit Monaten „abwärtsgerichtete Emotionsspiralen“ kreisen, die Land und Leute nach und nach immer mehr runterziehen.

Besonders jene Menschen, die gern Empathie zeigen, kommen mittlerweile durcheinander. Mal blicken sie im Fernsehen auf einen künstlich beatmeten Covid-19-Kranken. Mal erregt ein Lockdownopfer aus der Gastronomie ihr Mitleid, das sich vor dem Aus wähnt. Was würde helfen? Mehr lockern? Mehr Lockdown? Die Unauflöslichkeit der Widersprüche kann im engeren Sinne deprimierend wirken.

Vom „Impfdesaster“ zum „Staatsversagen“

Die einzige Emotion, bei der trotz entgegengesetzter Positionen alle vorbehaltlos mitschwingen, ist die Wut auf „die da oben“: Die Regierung hat versagt – den Satz hört man zum Beispiel bei Markus Lanz fast jeden Abend, von Linken wie von schneidigen Ökonomen. Auch von einem „Impfdesaster“ zu sprechen ist zur Folklore geworden.

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Die Politik wirkt ratlos wie nie. Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier sprach jüngst bei einer öffentlichen Veranstaltung seiner CDU in Fulda, in Hessen sind am morgigen Sonntag Kommunalwahlen. Besonders viel Beifall bekam „Buffi“, wie sie ihn in seiner Partei nennen, für eine Breitseite, mit der er mal eben die emotionale Lage der Nation zusammenfasste: „Die Leute haben die Schnauze voll.“

Da nickten Parteifreunde einander anerkennend zu: der alte Fuchs. Hat mal wieder die Stimmung genau erspürt. Keiner aber stand auf und fragte: Was genau, Herr Ministerpräsident, folgt jetzt eigentlich aus dieser Feststellung?

Die Kapitulation beginnt im Kommunalen

Landauf, landab verneigen sich Politiker derzeit vor den diffusen und widersprüchlichen Aufwallungen dieser Tage – statt ihnen entschlossen entgegenzutreten.

Die Kapitulation beginnt im Kommunalen. Anfang dieser Woche forderten niedersächsische Bürgermeister in einem parteiübergreifenden Aufruf, man solle sich von Inzidenzgrenzen wie 35, 50 oder 100 verabschieden. Begründung: „Diese Werte werden von der Bevölkerung schon längst nicht mehr akzeptiert.“

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Akzeptiert „die Bevölkerung“, könnte man ironisch fragen, noch die Straßenverkehrsordnung?

Hendrik Hoppenstedt, Staatsminister im Bundeskanzleramt, wurde in der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ mit Blick auf die Bürgermeister messerscharf: „Der Inzidenzwert ist nur deswegen so verhasst, weil er unbestechlich ist.“

Eins jedenfalls steht fest: Eine Virusabwehr nach Stimmungslage wird nicht gelingen. Dass Sars-CoV-2 sich nicht ums Emotionale schert, beweist das Virus gerade. Die Infektionskurven steigen, obwohl alle die Schnauze voll haben.

In Brandenburg reagiert Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) auf seine Art: Er hob die mit Merkel vereinbarte Notbremseninzidenz schon ein paar Tage nach dem Gipfel ebenfalls an, einfach so, von 100 auf 200. So passt dann alles erst mal wieder. Die Länder dürfen das. Der sozialdemokratische Gesundheitsexperte Karl Lauterbach ist offen entsetzt über seinen Parteifreund in Potsdam.

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Endgültig aufgegeben wird in diesem Hin und Her eine Linie, wie sie besorgte Wissenschaftlerinnen wie Viola Priesemann und Melanie Brinkmann empfohlen hatten. Die beiden waren für ein maximales Absenken der Inzidenzen, idealerweise in Richtung Einstelligkeit. Das aber hätte den Deutschen eine Gemeinschaftsleistung abverlangt, zu der sie in ihrem Schnauze-voll-Modus offenkundig weder bereit noch in der Lage sind.

Eine leise Lehrvorführung in Australien

Australien hat der Welt gezeigt, wie so etwas geht. Eine klar kommunizierende politische Führung zwang mitunter ganze Städte wieder in den Lockdown, wenn nur eine einzige neue Infektionskette auffiel. Die Zumutung für die Bürger war enorm, der Erfolg aber auch: Das Virus ist weg.

Australiens Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei sprachlos machenden 0,3. Dass so gut wie niemand im Land geimpft ist (0,49 Prozent), lässt die Australier deshalb völlig kalt.

In Deutschland dagegen ist alles viel höher: die Inzidenz (79), die Impfquote (7,3 Prozent) – und die allgemeine Aufregung. Am Sonnabend griffen in Dresden Corona-Leugner Polizisten an, in München tanzten sie provozierend eine Polonäse - alles ohne Nase-Mund-Schutz.

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Natürlich half den Australiern ihre Insellage. Doch die Geografie ist nicht die einzige Erklärung. Auch Großbritannien hat eine Insellage - dort starben mehr als 125.000 Menschen, Rekord in Europa. Australien hielt die Zahl der Toten im dreistelligen Bereich, bis Mitte März waren es rund 900.

Der eigentliche Unterschied liegt tiefer, er hat eine politische, soziale und nicht zuletzt auch philosophische Dimension. Die Einwanderernation hält die Bedeutung gemeinsamer Regeln hoch, nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer ethnischen Vielfalt. Und jeder sieht eine Verantwortung fürs große Ganze immer auch bei sich selbst.

„Die Leute hier haben, das war ein wichtiger erster Schritt, die Viruswelle als ein nicht mehr abwendbares, sehr großes Unglück akzeptiert“, sagt Matthew Sharpe, Philosophieprofessor in Melbourne. Dabei habe eine rein naturwissenschaftliche Betrachtungsweise dominiert. „Zweifler und Querdenker hatten bei uns von vornherein schlechte Karten, anders als bei euch in Europa“, berichtet Sharpe im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. „Und dann haben die Australier, im zweiten Schritt, sich sehr stark engagiert in allen Bereichen, in denen sie selbst etwas zum Positiven ändern konnten.“

Matthew Sharpe, Philosophieprofessor an der Deakin University in Melbourne.

Matthew Sharpe, Philosophieprofessor an der Deakin University in Melbourne.

Beide Schritte, freut sich der Philosoph, entsprächen eins zu eins den Ratschlägen antiker Denker, von Seneca über Epiktet bis Marcus Aurelius für Krisenbewältigungen aller Art: „Das ist wirklich stoisch.“

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Sharpe ist ein Fan dieser Denkart, er ist schon bei internationalen Stoiker-Events aufgetreten, zuletzt bei der Stoicon 2019 in Athen.

Im ganz und gar unstoischen Deutschland dagegen klappte noch nicht mal Teil eins der Übung, die Einordnung der Viruswelle als große Naturkatastrophe und Herausforderung für alle. Erst zweifelten viele an der unabänderlich eingetretenen Katastrophe als solcher, Relativierungen und Verschwörungsmythen machten die Runde. Und dann weigerten sich allzu viele auch noch, auf den Feldern des Veränderbaren mitzuhelfen.

Jetzt fangen Erwachsene an zu quengeln

Die Deutschen, klagt der Berliner Philosoph Schmid, hätten die Pandemie zum bloßen Politikum degradiert: „Jedes Problem soll bei uns auf der Stelle gelöst werden, vom Staat. Wenn er das nicht sofort hinbekommt, heißt es: Hier läuft was falsch.“

Inzwischen quengeln Erwachsene wie Kinder auf der Rücksitzbank im Stop-and-go: Wann sind wir endlich da? Etwas aushalten, etwas abwarten: Den modernen Deutschen erscheint das unmöglich. Die Politik allerdings macht es ihnen auch schwer in letzter Zeit: durch Fehler, unklare Ziele, Feindseligkeiten. Jeder zeigt auf jeden mit dem Finger.

Deutsche Querdenker bei einer Demonstration in Leipzig im November 2020.

Deutsche Querdenker bei einer Demonstration in Leipzig im November 2020.

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Im Januar, zu Beginn eines Jahres mit einer Bundestagswahl und sechs Landtagswahlen, überreichte die SPD mit großer Geste einen „Fragenkatalog“ zum Impfen an den Gesundheitsminister von der CDU. Dieser wiederum mahnte EU und Bundesländer zur Eile. Am Ende fragen sich da auch Wohlmeinende: Wer ist nun wofür verantwortlich?

Manche Medienmacher nutzen die Unklarheiten in der Pandemie, um sich auf neue Art in Stellung zu bringen: nicht wie früher als Helfer der Aufklärung, sondern als Sturmgeschütz der Emotion.

„Focus“-Kolumnist Jan Fleischhauer etwa schoss jetzt gegen die Kanzlerin, nicht mehr nur der Sache wegen: „Ich ertrage es einfach nicht mehr, die tantenhafte Selbstzufriedenheit ...“

„Irgendwann“, schrieb dräuend der Digitalguru Sascha Lobo, „ist man selbst für Müdigkeit emotional zu erschöpft, und dann bleibt ein tiefer, dumpfer Dauergroll, der nicht so scharfkantig ist wie die Wut. Aber gefährlicher ... Ich muss mich aktiv zwingen, nicht selbst zum Grollbürger zu werden, und es gelingt mir manchmal nur mittelgut.“

Der eine erträgt dieses, der andere jenes nicht mehr. Botschaften wie diese helfen zwar nicht weiter, aber sie kommen an. Und sie markieren immerhin das Problem: Es geht um Emotionen.

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Das Desaster im eigenen Kopf

Eine Weisheit von Epiktet lautet: „Nicht die Ereignisse verärgern uns, sondern die Meinungen und Urteile, die wir uns darüber bilden.“ Ein Beispiel steht gerade jedem vor Augen. In Deutschland wurden inzwischen 8,7 Millionen Impfdosen verabreicht. Man kann eine stoische Denkübung daraus machen. Finde ich das gut? Regt es mich auf? Ist es gar ein Desaster?

Klar: Einerseits gab und gibt es ärgerliche organisatorische Hakeleien, ohne die die Zahl theoretisch schon höher sein könnte. Andererseits hat bei Ausbruch der Pandemie kein seriöser Wissenschaftler angenommen, dass bereits ein Jahr später überhaupt schon wirksame Impfstoffe existieren würden.

Wer in zehn Jahren zurückblicke, werde die „blanke Hysterie“ im Deutschland dieser Tage nicht verstehen, prognostizierte die Münchner Historikerin Hedwig Richter am Freitag auf Twitter.

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Allein mit der Viruswelle jedenfalls wird man Unruhe und Reizbarkeit der Deutschen kaum erklären können. Seit Langem klagt der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz über eine „Entgrenzung des Emotionalen“, die überhandgenommen habe. Die moderne Gesellschaft produziere „negative Emotionen in einem Ausmaß, das sie selbst gar nicht bewältigen kann“.

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Am 27. November 2019, noch vor der Pandemie, veröffentlichte Reckwitz in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ein viel beachtetes „Plädoyer für eine Kultur der emotionalen Abkühlung“. Just vier Wochen später aber wurde in Wuhan Sars-CoV-2 entdeckt. Eine Abkühlung gab es nicht, im Gegenteil. Inzwischen addieren sich die Probleme.

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