Ethikratsmitglied plädiert für allgemeine Impfpflicht: „Auf Einsicht zu setzen hat nicht ausgereicht“
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„Verfestigung von Aberglauben, wie ich sie nicht für möglich gehalten hätte“: Protest von Impfgegnern in Wien.
© Quelle: imago images/SEPA.Media
Hannover. „Wir brauchen das gar nicht“: Mit dieser Begründung hatte die Ethikratsvorsitzende Alena Buyx im Juli eine Impfpflicht in Deutschland abgelehnt. Jetzt rollt die vierte Welle der Pandemie über Deutschland – und das Ethikratsmitglied Professor Wolfram Henn, Humangenetiker und Medizinethiker an der Universität des Saarlands, spricht sich für eine allgemeine Impfpflicht aus. Es sei ein politischer Fehler gewesen, die Impfpflicht am Anfang der Pandemie auszuschließen, erklärt Henn – und räumt auch eigene Fehleinschätzungen ein.
Herr Henn, im Sommer hatte der Ethikrat, dessen Mitglied Sie sind, eine allgemeine Impfpflicht noch abgelehnt. Was ist jetzt anders?
Wir sehen einen Anstieg der Infektionszahlen und eine erneute Belastung des Gesundheitssystems, wie sie da noch nicht absehbar waren. Als wesentliche Ursache sehen wir in Bezug auf die Impfung in Teilen der Gesellschaft eine Verfestigung von Aberglauben, wie man sie nicht für möglich gehalten hätte. Dass wir so sichere und wirksame Impfstoffe haben und so viele sie dennoch ablehnen, hätten wir nicht erwartet.
Dass eine höhere Impfquote wünschenswert wäre, schafft aber ja noch keine ethisch-moralische Legitimation einer Impfpflicht.
Der Ethikrat hat früh formuliert, dass jeder und jede Einzelne moralisch verpflichtet ist, im Rahmen ihrer Möglichkeiten an der Bekämpfung der Pandemie mitzuwirken. Noch im Sommer war man – auch ich selber – noch optimistisch, dass sich die Allermeisten vom offensichtlichen Erfolg der Impfungen überzeugen lassen würden. Nun weiß man, dass es der vielleicht größte Fehler der Politik war, die Bekämpfung der Pandemie mit dem Ausschluss einer Impfpflicht zu beginnen. Und auch ich muss bekennen, dass ich in dieser Frage zu optimistisch war.
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„Der vielleicht größte Fehler der Politik war, die Bekämpfung der Pandemie mit dem Ausschluss einer Impfpflicht zu beginnen“: Der Humangenetiker und Medizinethiker Prof. Wolfram Henn ist seit 2016 Mitglied des Deutschen Ethikrats.
© Quelle: Reiner Zensen/Deutscher Ethikrat
Also sind Sie jetzt doch für eine allgemeine Impfpflicht?
Eine allgemeine Impfpflicht kann nur das letzte Mittel sein. Aber es geht jetzt an die Substanz der Gesellschaft. Eine Impfpflicht kann uns in dieser vierten Welle nicht mehr schützen – aber uns vor der fünften und sechsten zu bewahren helfen. Wir müssen dieses Mittel daher jetzt entschlossen ergreifen, denn alle auf Einsicht setzenden Möglichkeiten sind ausgereizt. Leider.
Also muss man nun die Ungeimpften zur Impfung zwingen?
Nein, denn man muss eine Impfpflicht, um die es hier geht, strikt von einem „Impfzwang“ unterscheiden. Ein körperlicher Impfzwang wird zwar von ideologischen Impfgegnern stets als Schreckensszenario an die Wand gemalt – aber eine polizeiliche Vorführung zur Impfung kommt selbstverständlich nicht in Frage.
Bußgelder als „Sanktion und Anreiz zugleich“
Wie wollen Sie eine Impfpflicht dann durchsetzen?
Bußgelder könnten auch aus meiner Sicht ein wirkungsvolles Mittel sein. Diese könnten als Sanktion und Anreiz zugleich dienen, indem man sie mit einer Rückholmöglichkeit kombiniert: Man bekommt sein Bußgeld zurück, wenn man innerhalb einer bestimmten Zeit ein Impfzertifikat nachreicht.
Und die Reicheren kaufen sich dann von der Impfpflicht einfach frei?
Das darf natürlich nicht passieren. Deshalb müssten die Bußgelder je nach Einkommen und Vermögen gestaffelt werden. Dieser soziale Faktor wäre sehr wichtig.
„Die Mitte der Gesellschaft sind nun die Geimpften“
Die radikaleren Impfgegner werden Sie damit aber wahrscheinlich auch kaum zum Impfen bekommen.
Einen Teil der fundamentalistischen Gegner wird man damit nicht erreichen, da haben Sie recht. Damit wird unser Rechtsstaat umgehen müssen. Es gibt eine Szene, die Argumente und Fakten nicht bloß ablehnt, obwohl sie aus der Wissenschaft kommen – sondern gerade WEIL sie aus der Wissenschaft kommen. Mit denen gibt es keine kommunikative Basis mehr. Die viel beschworene Spaltung der Gesellschaft hatte ihre Ursprünge schon vor der Pandemie – aber die Mitte der Gesellschaft sind nun die Geimpften.
Welchen positiven Effekt könnte eine Impfpflicht dann auf Szene der Verweigerer haben?
Diese Szene ist ja zum Glück nicht so homogen, wie sie manchmal scheint. Da gibt es ja auch diejenigen, die der Impfung vielleicht innerlich gar nicht so ablehnend gegenüberstehen, aber es nicht wagen, sich gegenüber ihrem strikt impffeindlichen Umfeld dazu zu bekennen. Für sie könnte eine Impfpflicht für alle ein willkommener Ausweg sein, doch zum Impfen zu gehen.