Ex-Bundestagspräsident Thierse beklagt „verkommenes Freiheitsverständnis“ in der Pandemie
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/6RE53ATERA7RHGMJKWIXP3BMPY.jpg)
Wolfgang Thierse, Katholik und SPD-Mitglied.
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Oberursel, Berlin. Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) beklagt einen problematischen Freiheitsbegriff in der Gesellschaft, der sich durch die Corona-Pandemie ausgebreitet habe. Es gebe eine heftige Kollision zwischen dem mehrheitlichen Schutzbedürfnis und Sicherheitsanspruch an den Staat einerseits und andererseits einem widerborstigen, wütenden Freiheitsbedürfnis gegen den Staat, schrieb Thierse in einem Gastbeitrag für die Zeitschrift „Publik-Forum“.
Dieser Freiheitsanspruch sei das Problem in dieser wahrhaft Existenzen bedrohenden Krise, betonte Thierse. „Es ist ein ziemlich simples, soll ich sagen: verkommenes Freiheitsverständnis, das da auf grelle Weise sichtbar wird. Ein Verständnis, das Freiheit reduziert auf Individualismus, auf Entgrenzung und Ablehnung von Beschränkungen und Regeln, auf die Durchsetzung meines Willens und Befindens.“ Dieses Verständnis von Freiheit löse den untrennbaren Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung auf.
„Individualistisches und entsolidarisierendes Freiheitsverständnis“
Autonomie, missverstanden als selbstbestimmte individuelle Selbstverwirklichung, sei der angeblich höchste Wert in der Gesellschaft geworden, urteilte Thierse. „Wie wollen wir mit einem solchen individualistischen und entsolidarisierenden Freiheitsverständnis die sich zuspitzende Pandemie bewältigen? Und erst recht die viel größere Herausforderung, die Klimakatastrophe verhindern?“
Dieses einseitige Freiheitsverständnis werde gerade in der Debatte um eine mögliche Impfpflicht deutlich. Für die Folgen der eigenen, so freien Entscheidung fühlten sich die Mitbürger aber nicht verantwortlich, beklagte Thierse.
RND/epd