Ex-Bundestagspräsident Thierse warnt vor „Pazifismus auf Kosten anderer“
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Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD).
© Quelle: dpa
Berlin. Herr Thierse, in Deutschland regt sich im Lichte des Ukraine-Krieges wieder die „Friedensbewegung“. Sie übt Kritik an dem geplanten Sondervermögen für die Bundeswehr von 100 Milliarden Euro. Teilen Sie das?
Die Friedensbewegung wird nur glaubwürdig bleiben, wenn sie sich der bitteren Tatsache stellt, dass es die Schwäche und Uneinigkeit des Westens einerseits sowie die Schutz- und Wehrlosigkeit der Ukraine andererseits waren, die Putin als Aggressionsermunterung missverstehen konnte, ja musste. Dieser bitteren Tatsache darf man nicht mehr ausweichen. Wir brauchen eine selbstkritische Friedenspolitik.
Unter anderem bei der ehemaligen EKD-Ratsvorsitzenden Margot Käßmann, die sich gegen das Sondervermögen und Waffenlieferungen an die Ukraine wendet, hatten manche zuletzt den Eindruck, dass sie ausweicht.
Mir scheint, das ist ein Pazifismus auf Kosten anderer. Ich war bei den Berliner Friedensdemonstrationen und habe da alte Losungen gesehen wie „Soldaten sind Mörder“, „Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“ und „Frieden schaffen ohne Waffen“. Sie kommen mir wie aus der Zeit gefallen und gedankenlos vor. Auf Ukrainer müssen sie geradezu zynisch wirken.
Was bedeutet das für die operative Politik?
Zunächst bedeutet es, dass reiner Pazifismus gegen einen Aggressor nicht reicht. Mir fällt dabei eine geschichtsgetränkte Sentenz von Friedrich Schiller ein: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Wenn man also für eine Friedensordnung eintritt, dann sollte man wissen, dass sie auf Recht gegründet sein muss und man für dessen Durchsetzung Macht und Kraft braucht. An die Stelle der wunderbaren entspannungspolitischen Idee von der „gemeinsamen Sicherheit“ wird zunächst – so weh mir das tut – Sicherheit gegen Putin-Russland treten müssen, um auf der Basis eigener Stärke wieder für eine neue, andere und vor allem sicherere europäische Friedenarchitektur eintreten zu können.
Also ist die Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr erstmal passé?
Die Entspannungspolitik, die ich nach wie vor für eine Erfolgsgeschichte halte, hatte zwei Voraussetzungen: die militärische Stärke des Westens, das Abschreckungspotenzial der USA und die Bereitschaft der Sowjetunion, sich auf Verhandlungen und Kooperation einzulassen, weil sie unter Leonid Breschnew eine defensive Macht geworden war, die den eigenen Machtbereich bewahren und verteidigen wollte. Beide Voraussetzungen sind nicht mehr gegeben. Der Westen wirkte nach dem Afghanistan-Desaster schwach, und die USA galten nicht mehr als globale Ordnungsmacht. Russland wiederum ist eine aggressive Macht geworden. Das hat man in den letzten Jahren sehen können, aber nicht sehen wollen.
Ihr Parteifreund Ralf Stegner denkt immer noch, man könne mit Putin Willy-Brandt-Politik machen.
Allerdings teile auch ich die negative Euphorie nicht, die darin besteht, alle bisherige Politik zu verdammen und für gescheitert zu halten. Es gab gute Gründe für die Entspannungspolitik. Sie gehört zur Vorgeschichte der Friedlichen Revolution und des Zusammenbruchs des Kommunismus. Man könnte einige ihrer Elemente auch in Zukunft wieder gebrauchen. Aber ich erinnere an die Voraussetzungen, die ich eben genannt habe.
War die SPD zu russlandnah?
Das war gemeinsame Politik seit 2005 unter Führung von Angela Merkel; da sollte sich die CDU keinen schlanken Fuß machen. Außerdem hatte ich selbst lange das Gefühl, dass wir umzingelt sind von Freunden, und hielt die Russland-Politik für angemessen. Man hat Putins Blutspur zu lange nicht wahrgenommen. Andererseits weiß ich zwar nicht, wie man mit dem Lügner und Verbrecher Putin wieder Verträge wird abschließen können; doch es wird notwendig sein, denn Russland bleibt mit und erst recht nach Putin ein gewichtiger Teil Europas. Wenn die Waffen schweigen, muss es wieder um Politik gehen!
Ein Wort noch zu Gerhard Schröder?
Über den sollte man kein Wort mehr verlieren.