Experte über syrische Flüchtlinge: „Die Armut hat sich verschärft“

Andreas Kirchhof (UNHCR) im Interview.

Andreas Kirchhof (UNHCR) im Interview.

Herr Kirchhof, Sie kümmern sich um Syrien-Flüchtlinge in Jordanien und angrenzenden Ländern wie dem Libanon. Wie ist die Lage der Flüchtlinge dort – zehn Jahre nach Beginn des Krieges?

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Sie ist dramatisch. Es ist ja schon seit Jahren die größte Flüchtlingskrise der Welt. Aber im letzten Jahr haben wir noch mal eine ganz neue Entwicklung gesehen. Die Armut hat sich verschärft, seit Covid-19 kam. Im Libanon leben jetzt neun von zehn Syrern in extremer Armut.

Woran fehlt es am meisten?

Die Flüchtlinge haben immer weniger zu essen, können die Miete nicht mehr zahlen. Kinderarbeit nimmt zu. Vor ein paar Wochen fegte ein Schneesturm über den Libanon und Jordanien, während die Menschen nichts zum Heizen hatten. Das UNHCR hat seit 2020 ein neues Notfallprogramm aufgelegt, um mehr Bedürftigen mit kleinen Geldbeträgen über die Runden zu helfen.

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Ist so etwas wie Integration in die Aufnahmeländer erkennbar?

Ja, das kann man schon daran sehen, dass inzwischen weniger Menschen in Flüchtlingslagern leben müssen als zu Beginn der Krise. Derzeit ist es noch eine Familie von zwanzig. Die anderen leben in Städten und Dörfern. Und die Aufnahmeländer haben über die letzten zehn Jahre viel in der Richtung getan: Jordanien zum Beispiel hat vielen Flüchtlingen eine Arbeitserlaubnis erteilt.

Der Krieg ist in vielen Teilen Syriens ja praktisch beendet. Was hält die Flüchtlinge davon ab, zurückzukehren – die wirtschaftliche Not oder die fortexistierende Diktatur von Baschar al-Assad?

Das ist individuell unterschiedlich. Klar ist, dass in Syrien eine humanitäre Krise herrscht. Über 13 Millionen Menschen benötigen inzwischen Hilfe, die Zahl hatte sich zuletzt drastisch erhöht. Das UNHCR hilft einigen bedürftigen Menschen, zum Beispiel Rückkehrern, mit Hilfsgütern oder medizinischer Unterstützung. Aber die Krise verschärft sich trotzdem.

Wie ist die Situation in den Aufnahmeländern? Sind die Menschen dort weiter zur Beherbergung der Flüchtlinge bereit, oder wachsen die Spannungen? Soweit ich weiß, gibt es in Jordanien ja unter anderem ein Problem mit Wasserknappheit, das durch die Flüchtlinge noch wächst.

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Die Mehrzahl der Jordanier sagte im vorigen Jahr in einer Umfrage, dass sie Sympathie für Flüchtlinge habe. Die knappe Hälfte hat schon einmal Geld für Flüchtlinge gespendet oder sich ehrenamtlich engagiert. Trotzdem gibt es natürlich auch Spannungen, insbesondere jetzt, wo es beiden Gruppen schlechter geht. Wichtig ist es, über konkrete Notlagen hinaus mit den Aufnahmeländern zu arbeiten: Wie unterstützt man die Bedürftigsten, sowohl die Flüchtlinge als auch die in der Aufnahmegemeinde? Wie bringt man alle Kinder gemeinsam in die Schule? Wie geht man mit Ressourcen um? Hier gab es schon Fortschritte, gerade auch mit deutscher Unterstützung. Aber in der Pandemie drohen Rückschritte durch Armut.

Wie lange lässt sich der Status quo noch halten?

Das wissen wir nicht. Manche Flüchtlingskrisen dauern mehrere Jahrzehnte, und oft sind es politische Lösungen, die fehlen, während die Menschen leiden. Unsere erste Priorität ist kurzfristig: zu verhindern, dass die syrischen Flüchtlinge und auch die Aufnahmebevölkerung völlig im Elend versinken. Wir wissen, dass viele syrische Flüchtlinge gern zurückkehren wollen, aber das bislang nicht für möglich halten.

Was können Deutschland und Europa tun? Nach Jordanien etwa fließt ja bereits sehr viel Geld aus dem Westen, um das einzige halbwegs intakte Land im Mittleren Osten zu stabilisieren.

Zwei Dinge sind wichtiger denn je. Erstens: unmittelbare humanitäre Hilfe für Familien, die in der jetzigen wirtschaftlichen Krise keine Hoffnung mehr sehen. Zweitens: Unterstützung für die Hauptaufnahmeländer. Flüchtlingskinder sollen weiterhin die Schule besuchen können, Kliniken sollen allen offenstehen. Ende März findet eine internationale Geberkonferenz statt, und wir hoffen auf Solidarität mit den Nachbarländern, die 80 Prozent aller Syrer weltweit aufgenommen haben. Schließlich begrüßen wir es, wenn Länder – zumeist Industriestaaten – einige der besonders schutzbedürftigen Flüchtlinge direkt aus Erstaufnahmeländern wie dem Libanon aufnehmen. Das betrifft nur eine kleine Minderheit der Flüchtlinge, aber es kann Leben retten und neue Hoffnung geben.

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