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Fehlende Daten: Warum Deutschland im Corona-Dunkel tappt

Wo steht Deutschland in der Pandemie? Unsicherheit im Herbst (Symbolbild).

Wo steht Deutschland in der Pandemie? Unsicherheit im Herbst (Symbolbild).

Berlin. Gewusst haben sie es im Sommer. Bis zum 13. Juli lief eine Studie des Robert Koch-Instituts (RKI) zum Stand der Impfungen in Deutsch­land, es ging um das Vertrauen in den Impf­stoff, um Schutz­maß­nahmen, Sicher­heiten und die Impf­quote. Am Ende stand da ein Ergebnis, das irritierte: Unter den Befragten waren 79 Prozent der 18- bis 59-Jährigen erst­geimpft, in der offiziellen Statistik nur 59 Prozent.

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Das RKI erklärte sich die Diffe­renz mit verschiedenen Ansätzen: Es hätten sich wohl eher Menschen befragen lassen, die sich gern impfen ließen, die Befragung war nicht mehr­sprachig – wer aufgrund von Sprach­barrieren noch nicht zur Impfung gekommen sei, habe auch nicht an der Umfrage teilgenommen. Außerdem gab es da unpräzise Meldungen beim Impf­stoff von Johnson & Johnson, und die Betriebs­­ärzte hätten wohl nicht immer alles gemeldet. Das Ergebnis: „Die Impf­quote liegt voraus­sichtlich zwischen diesen Werten.“

Aber der Sommer war eben der Sommer, und im Sommer warteten noch viele Menschen auf ein erstes Impf­angebot, das große Problem war die Verfüg­barkeit und nicht die Bereit­schaft. Wer sich impfen lassen wolle, das war noch nicht die Frage, sondern: Wo ist der Impf­stoff?

Der Corona Newsletter "Die Pandemie und wir" vom RND.

Die Pandemie und wir

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Als dann genug für alle da war und die offi­zielle Impf­quote weit unter 70 Prozent herum­dümpelte, brach die Zeit der großen Appelle an: Ohne eine höhere Impf­quote stehe eine „fulminante vierte Welle“ bevor, sagte RKI-Chef Lothar Wieler. „Wir haben das Mittel in der Hand, uns in die Frei­heit zurück­zu­impfen“, so trommelte Bundes­gesund­heits­minister Jens Spahn (CDU) im September zur Impf­aktions­woche.

Betriebsärzte meldeten 1,5 Millionen Impfungen nicht

Aber haben wir das nicht viel­leicht schon getan? Allein von Betriebs­ärzten wurden rund 1,5 Millionen Impfungen zunächst nicht gemeldet. Das geht aus einer Schätzung des Betriebs­ärzte­verbandes vor, die dem Redak­tions­Netz­werk Deutsch­land (RND) vorliegt.

Der Haupt­grund: Rund 40 Prozent der Betriebs­ärzte hatten bis Mitte Juli keinen Zugang zum RKI-Melde­system, auch Mitte August waren noch nicht alle angebunden. „Die meisten dieser Impfungen sind über das kassen­ärztliche System gelaufen und somit eingegangen“, sagt Anette Wahl-Wachen­dorf, Vize­präsidentin des Verbandes deutscher Betriebs- und Werks­ärzte, dem RND.

Wie viele aber sind übrig? Das bleibt unklar. Sie spricht von „zwei­ein­halb Monaten Verzöge­rung“ bei der Anbindung an die RKI-Schnittstellen. Wir haben in alle Rich­tungen erklärt und sensibi­lisiert“, sagt Wahl-Wachen­dorf über die Rekons­truk­tion der Impf­quote, offenbar war der Erfolg bislang mäßig. Wäre eine exakte Berech­nung denn möglich? „Ja, da wir Ärzte in unseren Impf­akten und Beschäftigten­akten Impfungen vermerken“ lautet die einfache Antwort.

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Auch bei den Kassen­ärzten gibt es Rück­stände. „Natürlich ist nicht auszuschließen, dass nach einem langen Tag mal einzelne Impfungen nicht gemeldet werden“, sagt Roland Stahl, Sprecher der Kassen­ärzt­lichen Bundes­vereinigung. Abrechnungs­relevant sind die Einträge in das Melde­system des RKI nicht.

Und dabei wird es auch erst mal bleiben: „Das Melde­verfahren ist in der Melde­verordnung des Bundes­ministeriums für Gesund­heit verbind­lich geregelt“, betont RKI-Sprecherin Susanne Glas­macher. Dem Robert Koch-Institut ist es jedoch bislang nicht gelungen, die Daten so zusammen­zu­binden, dass unter dem Strich eine Zahl steht, die stimmt.

Infektiologe: „Wir haben keine echte Impfquote“

„Wir haben keine echte Impf­quote, das ist ein riesiges Problem, ein strukturelles Problem“, sagt der renommierte Kölner Infektio­loge Gerd Fätken­heuer dem RND. „Ich fürchte, dass das am Ende erst über die Abrech­nungen sicht­bar wird. Die RKI-Zahlen sind das untere Limit, weniger Impfungen sind es nicht. Es sind mehr. Nur wie viele mehr?“, fragt er, wohl­wissend, dass es keine Antwort gibt. In Wahr­heit weiß niemand, wo Deutsch­land im Kampf gegen das Virus steht. „Es stehen hier klärende Gespräche aus. Das RKI kommt sicher auf uns zu“, sagt die Vize­präsidentin der Betriebs­ärzte dem RND.

Auch die tatsäch­liche Inzidenz­lage ist nicht deut­lich. Wie inzwischen klar ist, wurden dem Robert Koch-Institut in der Woche ab dem 11. Oktober 832.509 PCR-Tests gemeldet, in der Vorwoche, als die Schnell­tests noch nichts kosteten, waren es fast 130.000 mehr. Die Zahl der positiven Tests stieg hingegen zur Vorwoche um knapp 7000 Infektionen auf 69.040.

„Ich habe durchaus die Sorge, dass die reale Inzidenz gerade deutlich schneller steigt als die gemeldete Inzidenz“, sagt Fätken­heuer. Der Indikator sei damit aber keines­wegs wert­los. Die Inzidenz sei „vor allem abhängig von symptoma­tischen Patienten, die sich melden und testen lassen. Unter diesem Gesichts­punkt sollten wir sie weiter­hin als wichtigen Indikator wahr­nehmen“, sagt der Mediziner. „Wenn man aber nur auf die Kranken­haus­einweisungen schaut, dann ist das, als steuere man ein Auto nur mit Rück­spiegel.“

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Das RKI gab die Inzidenz am Freitag mit 95,1 (fast 20.000 Neu­infektionen innerhalb von 24 Stunden) an – das ist so hoch wie zuletzt im Mai. Nicht unwahr­schein­lich, dass der Wert mit den alten Test­regeln drei­stellig wäre.

Wagenknecht kämpft um Auskünfte

Hinzu kommt die Frage nach den Impf­durch­brüchen. Sahra Wagen­knecht kämpft im Parlament derzeit auf verlorenem Posten um Auskünfte beim Gesund­heits­ministerium. Das kann – auch dieser Redak­tion gegen­über – nicht beziffern, wie hoch der tatsäch­liche Anteil an Impf­durch­brüchen in den Kliniken ist. Weil jeder Impf­status, der nicht gemeldet wird, aus der Statistik fällt.

„Jens Spahn will die Öffent­­lich­­keit nicht über die zunehmende Dynamik bei den Impf­durch­brüchen aufklären“, sagte Wagen­knecht zuletzt dem RND. Die andere Interpre­tation: Es gelingt nicht, die notwen­digen Daten zu erfassen. Die Intensiv­mediziner­vereinigung geht davon aus, dass nur 10 Prozent der Covid-Intensiv­patienten eigent­lich geschützt sind. Repräsentativ ist dies nicht; es fehlen hand­feste Daten, auf deren Grund­lage Dritt­impfungen differen­ziert disku­tiert werden könnten.

Wie passt die Summe der Ungewiss­heiten zum Ende der pande­mischen Lage, das Minister Spahn ins Auge fasst? Gar nicht, meint Gerd Fätken­heuer: „Wir kommen gerade in die kritischen Winter­monate, und wir sehen, was in anderen Ländern passiert. Es hätte keinen schlech­teren Zeitpunkt für diese Ankündi­gung geben können.“

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Er halte es für „sehr unklug, dass wir nicht wenigs­tens noch ein paar Wochen warten, wie sich die Lage entwickelt“. Natürlich wünschte auch er sich, dass es anders wäre, aber „wir sollten uns weniger von Wünschen als von nüch­ternen Beobach­tungen und Analysen leiten lassen“.

Selbst das RKI (Spahns Minis­terium ist dessen Aufsichts­behörde) wirkt von der Ankün­digung fast ein wenig über­rumpelt. Es kommentiere „generell keine Maßnahmen von Politik und Behörden oder Äußerungen Einzelner“, sagt die Sprecherin des Instituts – und verweist viel­sagend auf ein Positions­papier aus dem September, in dem es heißt: „Das RKI empfiehlt grund­sätzlich, dass die Basis­maß­nahmen bis zum nächsten Früh­jahr – auch von Geimpften und Genesenen – eingehalten werden sollten.“

Jens Spahn stellt die pande­mische Lage zur Dispo­sition, ohne genau das zuvor sicher­zu­stellen. Im neuen Wochen­bericht lässt das RKI noch mehr Dring­­lich­­keit anklingen: „Es ist damit zu rechnen, dass sich im weiteren Verlauf des Herbstes und Winters der Anstieg der Fall­zahlen noch beschleunigen wird.“

Lauterbach zeigt sich überrascht

Auch Karl Lauter­bach, als gesund­heits­poli­tischer Unter­händler der großen Koalition eigent­lich nah dran an den Entschei­dungen des Ministe­riums, war über­rascht von der Ankündi­gung, wie er dem RND sagte. „In der Koalition liefen Abstim­mungen dieser Art in der Regel etwas besser vorbereitet ab.“ Für ihn ist klar: „Dinge, die notwendig sind, werden weiter­geführt, niemand will ins offene Messer laufen.“ Auch die Gesund­heits­minister verschie­dener Länder drangen anschlie­ßend auf eine Beibehal­tung bundes­weiter Maßnahmen.

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Das Gesund­heits­minis­terium ist bemüht, Spahns Vorstoß einzufangen. „Die epidemische Lage zu beenden heißt nicht, die Pandemie für beendet zu erklären“, sagte ein Sprecher dem RND am Frei­tag. „Aus dem 19-monatigen Ausnahme­zustand geht es in einen Zustand der besonderen Vorsicht.“

Wie aber ist das Signal von Jens Spahn dann zu verstehen? Warum will er die Rechts­grund­lage für jene Regeln, die er selbst befür­wortet, los­werden? „Ich kann nicht ausschließen, dass in dieser Situa­tion auch der Wunsch nach politischer Profilie­rung eine Rolle spielt“, sagte Internist Michael Hallek zuletzt dem RND. Der Internist, der wie Fätken­heuer an der Kölner Uni­klinik forscht, ist Initiator der No-Covid-Bewegung, seine Stimme wird bis ins Kanzler­amt gehört.

„Insgesamt ist der simple Ruf nach Frei­heit schräg und rücksichtslos“, meint er. Die Lage sei nicht besser als Anfang September, jede Woche stürben derzeit etwa 400 Menschen an Covid-19, Immun­geschwächte seien auch geimpft nicht immer sicher: „Die Welt ist aber nicht einfach in Ordnung, wenn wichtige Minister sagen, sie sei in Ordnung.“

Spahns Minis­terium mahnt schließ­lich selbst. Der Sprecher sagte noch: „Der Normal­zustand dürfte erst im Früh­jahr wieder möglich sein.“ Die Aha-plus-L-Regeln – Abstand, Hygiene, Masken, Lüften – brauche es bis dahin noch. Die Lage bleibe pande­misch.

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