Freiwillige statten ukrainische Soldatinnen an der Front aus
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Kämpferinnen vermissten passende Uniformen, Kampfstiefel und andere wichtige Dinge des täglichen Bedarfs. Aus diesem Mangel heraus gründete sich eine Hilfsorganisation, die inzwischen in großem Stil weibliche Armeemitglieder mit allem Nötigen versorgt (Archivbild).
© Quelle: Emilio Morenatti/AP/dpa
Kiew. Kurz nach Beginn der russischen Invasion zog sich Anastasia Mochina einen Tarnanzug an und machte sich mit ihrem Mann auf den Weg, um die Ukraine zu verteidigen. Sie stellte schnell fest, dass die Streitkräfte nicht gut vorbereitet waren auf einen Zustrom weiblicher Freiwilliger.
Ihr älterer Halbbruder Andrij Kolesnyk, der wegen einer Behinderung vom Militärdienst befreit ist, und seine Frau Xenija Drahaniuk starteten zuhause eine Sammlung, um Mochina das Nötigste zu schicken. Innerhalb der Truppe breitete sich die Nachricht rasch aus, dass sich eine Amateur-Organisation auf die Bedürfnisse von Frauen spezialisiert hatte: Ein heimischer Versand für Soldatinnen war ins Leben gerufen.
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Heute stattet die Freiwilligengruppe mit dem Namen „Semliatschky“ - grob übersetzt mit „Landsfrauen“ - viele der 57.000 Frauen beim ukrainischen Militär aus: mit Stiefeln, Uniformen, Frauen-Urinalen, bügellosen BHs, Thermounterwäsche, Medikamenten, passenden Schutzschilden und Artikeln wie Hautcreme, Shampoo, Zahnpasta, Binden und Tampons. Kurz gesagt füllt die Gruppe unerwartete Lücken im Versorgungsnetzwerk der ukrainischen Streitkräfte.
Mindestens 6000 Ukrainerinnen an oder nahe der Front stationiert
„Unsere Armee war nicht auf die Tatsache vorbereitet, dass so viele Frauen dort auftauchen würden“, sagt Helferin Drahaniuk. Die 26-jährige Journalistin aus Jalta auf der besetzten Halbinsel Krim sitzt vor Metallregalen voller Kampfstiefel und Uniformen.
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Der russische Angriff, einer der größten seit dem Beginn des Krieges, legte umfangreiche Teile der zivilen ukrainischen Infrastruktur lahm.
© Quelle: Reuters
Aktuell sind mindestens 6000 Ukrainerinnen an oder in der Nähe der Front stationiert. Sie dienen als Sanitäterinnen und Nachrichtenoffizierinnen, aber auch als Hecken- und Maschinengewehrschützinnen. Sie unterstützen im Kampf die wehrpflichtigen Männer des Landes. Aufgrund des Kriegsrechts, das nach Beginn der russischen Invasion verhängt wurde, dürfen männliche ukrainische Staatsbürger zwischen 18 und 60 Jahren ihr Land bis auf wenige Ausnahmen nicht verlassen.
Der Ursprung von „Semliatschky“ war ein Wunsch Mochinas, wie sich Drahaniuk erinnert: „Ich brauche Lippenbalsam und Handcreme, weil meine Hände in der Kälte aufreißen, und das tut weh.“ Die Herstellung von Uniformen für Frauen sourcten die freiwilligen Helfer in der Heimat zunächst aus, inzwischen entwerfen und produzieren sie diese aber selbst in einer Fabrik in der Stadt Charkiw im Nordosten des Landes. Insgesamt halfen sie schon bei der Verteilung von Bedarfsgütern im Wert von mehr als einer Million Euro. Ein Viertel davon kam über direkte Geldspenden zusammen, der Rest durch Sachleistungen. Zu den gewerblichen Unterstützern gehören Pharmafirmen, Schönheitssalons und die Gaming-Industrie, wie Drahaniuk erzählt.
„Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte nur irgendetwas tun“
Der seit fast zehn Monaten andauernde Krieg trifft alle Menschen in der Ukraine. Frauen tragen in vielerlei Hinsicht aber eine besonders schwere Last: Millionen flohen aus dem Land, oft mit Kindern und älteren Angehörigen. Zurückgebliebene Frauen wurden nach Angaben von Menschenrechtlern zum Teil vergewaltigt, sexuell missbraucht oder auf andere Weise brutal behandelt. Eine unbekannte Zahl wurde bei russischen Angriffen verletzt oder getötet.
„Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte nur irgendetwas tun“, sagt Mochina, die schon als Funk- und Kommunikationsspezialistin sowie bei Verteidigungseinheiten in Kiew im Einsatz war. „Wir wollten uns einfach zur Wehr setzen. Deshalb haben mein Vater und ich uns direkt beim nächsten Militärposten gemeldet.“
Nach Kriegsbeginn statteten die ukrainischen Streitkräfte viele Frauen zunächst mit Männer-Uniformen und -stiefeln in kleinen Größen aus. Seit einigen Monaten geht „Semliatschky“ mit seinen Designs nun auf die Körpergrößen und -formen sowie den Bedarf von Frauen ein. Täglichen gehen Dutzende Bestellungen ein und werden per Lastwagen, Zug oder Kurier ausgeliefert. Zwei Räume eines umfunktionierten Lagerhauses im Nordosten der Hauptstadt Kiew dienen inzwischen als Ausgabestelle, an der Frauen während eines Heimaturlaubs die Waren abholen können. Diese werden ihnen kostenfrei zur Verfügung gestellt.
Unterstützung geht über die reine Ausstattung hinaus
Erst kürzlich wurde laut Drahaniuk eine Bestellung von ursprünglich zehn Uniformen und Stiefelpaaren auf die Hälfte reduziert – nachdem fünf Soldatinnen bei einem nächtlichen russischen Angriff getötet worden seien. „Sie opfern wirklich ihr Leben für die Freiheit unserer Landes“, sagt sie.
Die Unterstützung von „Semliatschky“ für Kämpferinnen geht dabei über die reine Ausstattung hinaus: Die Gruppe postet online auch Porträts von Soldatinnen sowie Trainingsvideos. Alles, was sie trage, habe sie von Drahaniuk bekommen, sagt die Soldatin Maria Stalinska, die sich in der Ausgabestelle neue Ausrüstung abholt: „Sie ist unsere Retterin. Wir sind wirklich dankbar. Diese Menschen tun viel für uns Frauen, für die Armee, für den Schutz. Sie unterstützen uns in allem.“
Drahaniuk hoffe, dass ihre Arbeit langfristig dazu beiträgt, die Rolle von Frauen in der Gesellschaft zu stärken. „Nach dem Sieg der Ukraine wird sich das Verhalten von Männern gegenüber Frauen ändern“, sagt sie. „In der Zivilgesellschaft wird es Frauen geben, die gekämpft haben, und Männer, die nicht gekämpft haben. Das könnte Dinge wie das berufliche Fortkommen, Gehälter, sogar die Kultur von Frauen in der Gesellschaft ändern, so dass sie mehr Respekt von Männern bekommen.“
RND/AP