In Deutschland geehrt, in Griechenland eingesperrt
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Die griechischen Behörden versuchen mit allen Mitteln, gegen Migranten vorzugehen.
© Quelle: Foto: Alexandros Michailidis/AP/dpa
Athen. Für viele sind sie Helden. Aber die griechische Justiz verfolgt sie als Kriminelle. Am Dienstag wird auf der Ägäisinsel Lesbos der Prozess gegen 24 Mitarbeiter der Hilfsorganisation Emergency Response Center International (ERCI) wieder aufgenommen. Den Beschuldigten drohen Haftstrafen wegen Menschenschmuggel, Geldwäsche, Spionage und Bildung einer kriminellen Vereinigung. Menschenrechtsorganisationen sehen in dem Prozess einen Versuch, die Arbeit von Flüchtlingshelfern in Griechenland zu kriminalisieren, Hilfsorganisationen zu vertreiben und Migranten abzuschrecken.
Die prominenteste Angeklagte in dem Prozess ist die 27-jährige Sarah Mardini. Sie wuchs mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester Yusra in Damaskus auf. 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, flohen die beiden Schwestern in die Türkei. Von dort wollten sie über die Ägäis nach Griechenland, zur Insel Lesbos. Doch bevor sie die rettende Küste erreichten, setzte der Motor des Schlauchbootes aus.
UN-Hilfswerk sieht größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg
Das Ausmaß und die Geschwindigkeit seien ohne Beispiel in der Geschichte von Flucht und Vertreibung seit dem Zweiten Weltkrieg.
© Quelle: dpa
Sarah und Yusra, trainierte Wettkampfschwimmerinnen, sprangen über Bord und zogen schwimmend das Schlauchboot mit seinen 18 Insassen an Land. Von Griechenland gelangten die Schwestern über die Balkanroute nach Deutschland. Ihre Story ging um die Welt. 2016 wurden sie als „stille Heldinnen“ mit einem Bambi ausgezeichnet. Netflix machte aus der „unglaublichen wahren Geschichte“ den Film „Die Schwimmerinnen“, der 2022 Premiere hatte.
Die dunkle Seite einer Heldinnengeschichte
Aber es gibt eine zweite Geschichte, die im Film nicht vorkommt. Sie spielt in den Jahren 2016 bis 2018. Sarah Mardini war aus Berlin nach Lesbos zurückgekehrt, um als Freiwillige für die Hilfsorganisation ERCI zu arbeiten. Die Organisation betreute Flüchtlinge, unter anderem im berüchtigten Camp Moria. Als Mardini am 21. August 2018 nach Deutschland zurückfliegen wollte, wurde sie am Flughafen Lesbos festgenommen und kam in Untersuchungshaft.
Die Staatsanwaltschaft wirft ihr und den 23 Mitangeklagten unter anderem vor, sie hätten mit Menschenschmugglern in der Türkei zusammengearbeitet, um Migranten einzuschleusen. Nach 106 Tagen Untersuchungshaft im berüchtigten Athener Hochsicherheitsgefängnis Korydallos wurde Sarah Mardini gegen 5000 Euro Kaution aus der Untersuchungshaft entlassen und konnte nach Deutschland zurückkehren.
Im November 2021 kam es auf Lesbos zum Prozess, der aber aus Verfahrungsgründen gleich wieder unterbrochen und an eine andere Kammer verwiesen wurde. Nun wird das Verfahren wieder aufgenommen. Es geht um Spionage und Urkundenfälschung. Darauf stehen bis zu acht Jahre Haft. Zugleich läuft ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen die Angeklagten wegen Menschenschmuggel, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Geldwäsche. Spenden seien veruntreut worden, die Hilfsorganisation in Wirklichkeit ein „kriminelles Netzwerk“. Dafür könnte ein Gericht bis zu 25 Jahre Haft verhängen.
Prozess schockt Menschenrechtsaktivisten
Mardini und die Mitangeklagten bestreiten die Vorwürfe. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International nennt den Prozess eine „Farce“. Die Angeklagten hätten „nur das getan, was jeder von uns tun würde, wenn wir an ihrer Stelle gewesen wären“, sagt Nils Muiznieks von Amnesty. Der Prozess zeige, dass die griechischen Behörden „nichts unversucht lassen, um humanitäre Hilfe zu unterbinden und Migranten abzuschrecken“.
Zu den Absurditäten des Prozesses gehört, dass Sarah Mardini in ihrem eigenen Verfahren bisher nicht vor Gericht erscheinen konnte. Die griechischen Behörden haben ein Einreiseverbot gegen sie verhängt. So will man offenbar verhindern, dass sie sich selbst vor Gericht verteidigt. Sie wird von einer Anwältin vertreten.
Das Verfahren als Wegweiser für die griechische Migrationspolitik
Kritiker stellen den Prozess in einen größeren Kontext. Sie sehen in dem Verfahren einen weiteren Beweis für eine Strategie der Abschreckung: Die griechische Regierung wolle alles vermeiden, was Schutzsuchenden einen Anreiz geben könne, nach Griechenland zu kommen. Dazu gehörten, so sagen Menschenrechtler, das völkerrechtswidrige Zurückdrängen von Flüchtlingsbooten in der Ägäis, die gewollt gefängnisähnlichen Zustände in den Auffanglagern auf den griechischen Inseln und der immer größere Druck auf Hilfsorganisationen. Damit wird das Verfahren auf Lesbos auch zu einem Prüfstein für die umstrittene griechische Migrationspolitik.
Ein Untersuchungsbericht des Europaparlament vom Juni 2021 bezeichnet den Prozess als „den größten Fall der Kriminalisierung von Flüchtlingssolidarität in Europa“. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch spricht von einem „politisch motivierten Prozess“, dessen Ziel es sei, Hilfsorganisationen einzuschüchtern und sie an ihrer Arbeit zu hindern. „Die griechischen Behörden verfolgen die Angeklagten, weil sie das Leben von Menschen gerettet haben, die nach Ansicht der Behörden nicht gerettet werden sollten“, sagt Bill Van Esveld von Human Rights Watch.
Rettung in der Not oder Verbrechen?
Wie schmal in Griechenland der Grat zwischen Flüchtlingshilfe und Kriminalität ist, zeigt ein Fall vom Dezember 2020. Damals verurteilte ein Gericht auf der Insel Chios drei junge Männer aus Afghanistan zu Haftstrafen zwischen 50 und 142 Jahren. Schleuser hatten sie mit anderen Migranten in Schlauchbooten aus der Türkei über die Ägäis gebracht. Auf halbem Weg hätten die Menschenschmuggler ihn mit vorgehaltener Waffe gezwungen, das Steuer des Außenbordmotors zu übernehmen, und sich mit einem Beiboot davongemacht, berichtet einer der drei Afghanen, Hanad Abdi Mohammad.
Als das Boot vor Chios in Seenot geriet, kam die griechische Küstenwache den Migranten zu Hilfe. Weil der 28-jährige Mohammad am Steuer saß, wurde er festgenommen und als Schleuser angeklagt. Nach einem 2014 in Griechenland eingeführten Gesetz drohen Schleusern für jeden Menschen, den sie einschmuggeln, bis zu 15 Jahre Haft. Im Fall von Hanad Abdi Mohammad addierte sich das auf 142 Jahre. Er verbüßt seine Strafe im Gefängnis von Chios.
Nach diesem Urteil verfolgen Menschenrechtsorganisationen jetzt das Verfahren auf Lesbos umso aufmerksamer. Rechtsexperten erwarten, dass der Prozess gegen Mardini und ihre Mitangeklagten Wochen oder Monate dauern wird.