Grünen-Parteitag: reden, stolpern, weitermachen
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Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin und Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, spricht zum Ende der Bundesdelegiertenkonferenz ihrer Partei. Bei dem digitalen Parteitag in Berlin haben die Grünen ihr Wahlprogramm für die Bundestagswahl im September verabschiedet.
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Berlin. Die Spannung bei den Grünen löst sich am Sonntag, und zwar mithilfe einer Landkarte. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat sich zum Grünen-Parteitag zugeschaltet und projiziert den Umriss seines Bundeslands auf den Bildschirm, schwarz zuerst und dann immer grüner – es zeigt den Siegeszug der Grünen, die der Union in deren einstigen Stammland in den vergangenen zehn Jahren Wahlkreis für Wahlkreis abgenommen haben.
Kretschmann regiert dort seit 2011, erst im März hat er wieder die Landtagswahl gewonnen.
„Wir wollen das Wunder auch im Bund möglich machen“, sagt Kretschmann. „Wir treten an, um Deutschland zu führen und der Politik die Richtung vorzugeben.“
Schlechte Umfragewerte? Debatten über den Lebenslauf von Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock? Aufgebauscht, Empörungsspektakel, sagt Kretschmann. Die Debatten zeigten, wie nervös die politischen Gegner seien. „Mit Annalena Baerbock an der Spitze können wir das scheinbar Unmögliche möglich machen“, sagt Kretschmann.
Es wäre ein gutes Schlusswort für einen Parteitag, der Punkt, an dem das große Jubeln einsetzt, Blumen für und Winkebilder mit der Kandidatin im Kreise begeisterter Unterstützer.
In der Blumenrabatten-Kulisse
Aber der Parteitag muss sich noch über die Außenpolitik abstimmen und ohnehin ist gar keine Möglichkeit für die üblichen Inszenierungen: Zwar gibt es eine Halle mit einer Bühne, aber dort sitzen wegen Corona nur ein paar Spitzenpolitiker, viele Organisatoren und Techniker und ein paar Journalisten. Und Baerbock und ihr Co-Parteichef Robert Habeck in einer möbelhausfähigen Blumenrabatten-Kulisse.
Die rund 800 Delegierten verfolgen den Parteitag über ihre Computerbildschirme von außerhalb. In der Halle darf sich keiner richtig nahe kommen.
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Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin und Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, und Robert Habeck, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, nehmen an der Bundesdelegiertenkonferenz ihrer Partei teil. Bei dem digitalen Parteitag in Berlin haben die Grünen ihr Wahlprogramm für die Bundestagswahl im September verabschiedet.
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Kretschmann redet, Baerbock lächelt. Sie sieht etwas entspannter aus als in den Tagen zuvor.
Es hat ja eigentlich alles geklappt auf diesem Parteitag. Oder besser: fast alles.
Das Wahlprogramm ist so durchgekommen, wie es die Parteispitze vorgesehen hatte. Bis auf zwei eher kleinere Änderungen hat der Vorstand alle der rund 50 Abstimmungen gewonnen. Nur 60 statt 80 Euro CO₂-Preis also, keine Enteignung von Wohnungsbauunternehmen und kein Nein, sondern ein Vielleicht zu bewaffneten Drohnen – sehr koalitionskompatibel also.
Habeck hat es vor dem Parteitag übernommen, die Delegierten darauf einzuschwören, keine Forderungen ins Wahlprogramm zu schreiben, die nicht umsetzbar sind.
Lob vom DGB und vom Ex-Siemens-Chef
Und dann gibt es noch diese Teile im Bausatzprogramm „Bündnispartner“: DGB-Chef Reiner Hoffmann lobt die Grünen in einer Gastrede. Ex-Siemens-Chef Joe Kaeser sagt, die Grünen sollten ihre Chance nicht vergeben, „von einer Abteilungsleitung Umwelt in den Vorstand Deutschland aufzusteigen“. Das lässt sich anführen gegen Kritik von SPD und Union.
Und ein Weiteres hat geklappt: Die Delegierten haben Baerbock mit 98,55 Prozent der Stimmen als Kanzlerkandidatin bestätigt, kein bisschen Zweifel also kommt da auf.
Inwieweit das gute Ergebnis an einem kleinen Trick liegt, lässt sich nicht sagen. Zur Abstimmung gestanden haben Baerbock und ihr Co-Chef Robert Habeck zusammen, das Spitzenduo also. Wäre auch bei einem Kanzlerkandidaten Habeck so gewesen, heißt es bei den Grünen. Keine Baerbock-Sonderlösung also.
Die sechs Neinstimmen und vier Enthaltungen, die zu den 100 Prozent fehlen, sind ein strategisches Glück. Sie bewahren die Kanzlerkandidatin vor der Martin-Schulz-Assoziation: Start mit 100 Prozent auf dem Parteitag und Absturz bei der Bundestagswahl. Alles gut also an dieser Stelle.
Der Fluch nach der Rede
Nur die Kandidatin selber hat gepatzt.
Nicht mit diesem kleinen Stolpern auf dem Weg zur Bühne vor ihrer Rede, kaum sichtbar, gerade noch abgefangen. Ihr Blick ging da zu Habeck, ein leicht ungläubiges Lächeln, als hätten die beiden davor darüber geredet: Was passiert eigentlich, wenn man sich vor laufenden Kameras auf die Nase legt?
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Baerbock bleibt stehen, aber sie stolpert noch einmal. Diesmal in ihrer Rede, spricht von digitalen Angriffen und „liberalen Feinden“, Stutzt, setzt noch einmal an. „Feinde der liberalen Demokratie innen wie außen“, so muss das heißen.
Bei der Konkurrenz freut man sich. Der Chefstratege von SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, Finanzstaatssekretär Wolfgang Schmidt, twittert: „Solide Selbsteinschätzung der Rede.“ Die SPD hat Baerbock in der Rede anders als die Union nicht einmal erwähnt, nur Willy Brandt hat sie einmal zitiert.
Baerbock habe sich einfach über ihren Versprecher geärgert, heißt es in ihrem Umfeld zu dem Nach-Rede-Schimpfwort. Die Passage sei ihr nun mal wichtig gewesen.
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Die Hoffnungen der Grünen liegen auf ihr: Spitzenkandidatin Annalena Baerbock bei ihrer Rede auf dem digitalen Parteitag der Grünen.
© Quelle: Getty Images
Sie hat sich ja lange vorbereitet auf diese Rede. Hat sich kaum blicken lassen auf dem Parteitag bis zu ihrem Auftritt, während Habeck entspannt oder zumindest demonstrativ entspannt durch die Halle streifte.
Habecks schwungvolle Rede
Der Fokus lag auf dieser Rede, darauf, wie Baerbock dem Druck der vergangenen Wochen standhalten würde. Habeck hatte schon geredet, schwungvoll und ohne Manuskript. Hatte den Begriff „Freiheit“ ins Zentrum gerückt und ihn damit der FDP streitig gemacht. Und er hat eindrucksvoll geendet: „Wir Grüne stehen vor dem Wahlkampf unseres Lebens. Ich freu mich drauf. Wir sehen uns auf der Straße.“
Wahlkampf des Lebens, darauf muss dann eigentlich von der Kanzlerkandidatin eine Rede des Lebens folgen. Sie hat ihren wortgewandten Co-Chef ja auch schon einmal übertrumpft, hat ihn mit forschen Sprüchen bei der Wahl zur Parteichefin überrundet.
Aber nun ist Baerbock in der Defensive, und da muss sie erst einmal rauskommen. Sie habe Fehler gemacht, so beginnt sie also ihre Rede und dankt für Unterstützung, den Delegierten und auch Habeck. „Dich an meiner Seite zu wissen, das hat Kraft gegeben und volle Power“, sagt Baerbock, und die Power klingt noch etwas erschöpft.
Tichanowskajas Auftritt
Aber ein paar Motivationssprüche hat sie auch dabei. „In diesem Sommer dreht sich der Wind“, ruft Baerbock also. Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja wird diesen Satz aufgreifen, als sie am Sonntag kurzfristig auf dem Parteitag vorbeischaut.
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Annalena Baerbock und Robert Habeck empfangen auf dem Grünen-Parteitag die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja (Mitte).
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Tichanowskaja will Präsidentin in ihrem Heimatland werden. Es sind andere Umstände, unter denen sie sich darum bemüht, kein Vergleich mit einem Wahlkampf in Deutschland, sämtliche Härten schrumpfen da plötzlich zusammen und Lebenslauffragen sowieso. Eine junge Frau, die sich für den Chefsessel bewirbt, diese Parallele gibt es dann doch. Tichanowskaja lobt die Grünen für ihr seit Jahren anhaltendes Interesse an Belarus, kerzengerade und fast starr steht sie am Rednerpult.
Aber zurück zur Rede von Baerbock. Eng bleibt die 40-Jährige an ihrem Manuskript, sie ackert sich durch ihre Aufgabe, eine Art Kanzlerinnenrede halten zu müssen.
Pendler und Stahlarbeiter
Das das so ist, zeigt sich zum Beispiel in der Anrede. Baerbock adressiert nicht nur die Grünen, sondern die „Bürgerinnen und Bürger“. Das „Wir“ sei nicht nur die Partei, sondern alle, sagt sie. „Jeden Einzelnen müssen wir sehen und hören.“ Und sie zählt die auf, die nicht zu den Standard-Sympathisanten der Grünen zählen: Pendler, Stahlarbeiter und Handwerker.
Zu den 20-Umfragen-Prozent sollen ja noch ein paar Punkte dazukommen.
Zutrauen ist Baerbocks Kernbegriff. Sie erklärt noch einmal, worum es den Grünen geht beim Klimaschutz und wie Kosten sozial abgefedert werden sollen. Sie legt einen Fokus auf Kinderrechte und Familien, die von Sozialleistungen leben müssen. 1,40 Euro pro Tag müsse für alles reichen, „was das Leben eines Kindes versüßt: Freibad, Eis essen, neue Fußballschuhe“, sagt Baerbock. Für Eltern bedeutete das „so viele Neins an einem einzigen Sommertag“.
Wider die Klischees
Beim Thema Autos wird sie persönlich: „Das Auto war für mich mit 18 meine große Freiheit“, sagt sie. Da habe sie nämlich zum Jobben aus ihrem Dorf in Niedersachsen in eine Bäckerei pendeln müssen – und eine Bus- oder Bahnverbindung habe es nicht gegeben.
Es ist der Versuch, Ängste zu nehmen und Klischees zu durchbrechen – die von den autofeindlichen Grünen zum Beispiel.
Auch von ihrer Mutter erzählt Baerbock. Die habe sich gegen eine frühe negative Lehrereinschätzung bis zum Studium gekämpft. Ein bisschen Biografie nebenher, die Erfahrung mit holprigen Lebenswegen und Widerständen. Auch das gehört in die Abteilung: Erdung und Lebensnähe vermitteln.
Es sei nicht die Frage, ob der Wandel komme, sondern wer ihn am besten gestalten könne, sagt Baerbock noch. „Jetzt ist der Moment, unser Land zu erneuern.“
In der Halle schaffen Mitarbeiter und ein paar Dutzend extra geladene Neumitglieder eine doch ganz beeindruckende Applauskulisse.
Baerbock verbeugt sich, das Lächeln etwas angestrengt.
„Ich bin mir sicher: Du wirst es schaffen“, sagt Kretschmann in seiner Rede am Sonntag. Ein paar Abstimmungen noch, der Bundesvorstand setzt Sieg auf Sieg und dann ist der Parteitag vorbei.
Jetzt gehe es dann richtig los mit dem Wahlkampf, sagt Baerbock. „Das war jetzt der einfache Teil.“
Und plötzlich wirkt sie gelöst.