Guantanamo: Der ewige Schandfleck in der Karibik
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Ein von der US‑Armee herausgegebenes Foto zeigt in orangefarbene Overalls gekleidete Häftlinge, die Anfang Januar 2002 im Camp X-Ray auf dem US‑Marinestützpunkt Guantanamo Bay auf Kuba auf dem Boden knien.
© Quelle: Shane T. McCoy/epa/dpa
Brüssel. Vor vielen Jahren schon wuchs Gras über die Sache. Es ist dickes Gras mit scharfen Rändern. Kniehoch steht es in den Zellen aus Maschendraht, in denen einst Gefangene in orangefarbenen Overalls bei Wind, Wetter und Hitze ausharren mussten. Eine Klimaanlage gab es nur für die Wachhunde.
Mittlerweile hat die karibische Flora das berüchtigte Camp X-Ray überwuchert. Ein paar Bananenratten, groß wie Katzen, hängen faul im Drahtgebälk der Käfige für die Gefangenen der ersten Stunde. Leguane schleichen behäbig herum.
Bis vor ein paar Jahren durften noch Journalisten den US‑Stützpunkt Guantanamo Bay an der Südostspitze Kubas besuchen. Das damals längst verlassene Camp X-Ray war ein fester Bestandteil ihres Besuchsprogramms. US‑Soldaten führten sie durchs Gebüsch und zu den Käfigen.
Es wirkte wie ein Schauspiel, mit dem Besuchern suggeriert werden sollte: So schlimm wie in Camp X-Ray ist es hier in Guantanamo gar nicht mehr.
Zeitweise mehr als 770 Häftlinge
Die terrorverdächtigen Gefangenen waren zu diesem Zeitpunkt bereits alle in einen vergleichsweise modernen Gefängniskomplex in Strandnähe verlegt worden. Heute sind es noch 40 Männer, von denen die allermeisten ohne Anklage in Guantanamo sitzen. Zeitweise waren es mehr als 770.
Der neue US-Präsident Joe Biden unternimmt nun einen neuen Anlauf, das Lager zu schließen. Das würde einen völkerrechtlichen Schandfleck beseitigen, der seit bald 20 Jahren auf den USA lastet. Biden will erreichen, was seinem Vorvorgänger im Amt, Barack Obama, misslungen ist. Ob er Erfolg haben wird, lässt sich noch nicht sagen.
Das liegt auch daran, dass das Gefängnis in der Karibik und seine Insassen seit fast 20 Jahren der US‑Politik als Kampfinstrument dienen. Bidens Vorgänger Donald Trump etwa dachte nicht im Traum daran, das Lager zu schließen. Er wurde dafür von seinen Anhängern bejubelt. Obamas Versuche, Guantanamo aufzugeben, begeisterten dessen Basis.
Ein Ort für die „Schlimmsten der Schlimmen“
Anfang 2002 hatte die damalige US-Regierung unter Präsident George W. Bush beschlossen, dass der US‑Flottenstützpunkt Guantanamo genau der richtige Ort sein sollte, um die „Schlimmsten der Schlimmen“ zu verwahren. Darunter war auch ein junger Mann aus Bremen. Murat Kurnaz saß mehr als viereinhalb Jahre in Guantanamo, bevor er im August 2006 freigelassen wurde. Kurnaz berichtete später von Folterungen und Demütigungen.
Die US‑Regierung hatte nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 das internationale Recht. Die Terrorverdächtigen waren keine Kriegsgefangenen, aber auch keine Straftäter. Also erdachten Juristen der US‑Regierung die Kategorie der „feindlichen Kämpfer“ – Menschen, die für rechtlos erklärt wurden. So wurde Guantanamo, das offiziell kein US‑Staatsgebiet ist, zum Symbol für einen „Krieg gegen den Terror“, in dem der Zweck die Mittel heiligte. Das ist es bis heute geblieben, nur spricht kaum noch jemand von Guantanamo und seinen vergessenen Gefangenen.
Das 120 Quadratkilometer große Stück Land war jahrzehntelang ein unbedeutender Außenposten des US‑Militärs, wo Kriegsschiffe Treibstoff aufnahmen oder repariert wurden. Die Bucht und die umliegenden Landstriche wurden 1903 vom damaligen kubanischen Präsidenten an die USA verpachtet, weil deren Soldaten geholfen hatten, die spanischen Kolonialherren zu vertreiben. Die Amerikaner waren lange sehr willkommen. Das änderte sich, als Fidel Castro die Macht in Kuba übernahm. Zwar schickte die US‑Regierung jedes Jahr einen Scheck über etwa 4000 Dollar nach Havanna. So niedrig ist der Pachtzins. Doch die kubanische Regierung löste den Scheck nicht ein, weil es die Anwesenheit der USA auf eigenem Staatsgebiet nicht legitimieren will.
Im Niemandsland
Guantanamo ist ein Niemandsland. Über die Jahrzehnte entwickelte sich eine bizarre Koexistenz zwischen US‑Soldaten und den Kubanern jenseits des Grenzzauns. Der US‑Soldatensender „Radio GTMO“ verkaufte T‑Shirts mit der Aufschrift „Wir rocken in Fidels Hinterhof“, die eine Karikatur Castros mit Zigarre im Mund auf der Rückseite zeigten.
Kubanische Schiffe wurden von US‑Patrouillenbooten begleitet, wenn sie aufs offene Meer hinausfahren. Die Amerikaner schickten Flüchtlinge aus Kuba, die es durch vermintes Gelände auf die Marinebasis schafften, umgehend wieder zurück.
In den Bars des Stützpunktes sagten die Leute vor Jahren hinter vorgehaltener Hand, schwangere Vertragsarbeiterinnen aus Jamaika oder den Philippinnen würden vor Einsetzen der Wehen nach Hause geschickt. Damit werde eine Antwort auf die rechtlich schwierige Frage umgangen, ob die Kinder auf US‑Staatsgebiet zur Welt gekommen sind und damit Anspruch auf die US‑Staatsbürgerschaft haben.
Es ist bis heute schwer zu sagen, ob Guantanamo ein Militärstützpunkt mit angeschlossenem Gefängnis oder ein Knast mit angeschlossener Kaserne ist. Die Marinesoldaten des Stützpunkts und die Wachsoldaten des Gefängnisses leben voneinander getrennt und treffen sich nur zufällig. Guantanamo wirkt mit seinen Kneipen, seinem McDonald’s, seinem Neun-Loch-Golfplatz, seinem Freiluftkino wie jede x-beliebige US‑Kleinstadt.
13 Millionen Dollar pro Häftling und Jahr
Gleichzeitig ist Guantanamo Bay das mutmaßlich teuerste Gefängnis der Welt. Zahlen für das Jahr 2019, die die „New York Times“ veröffentlicht hat, belegen das eindrücklich. Demnach verschlang der Betrieb des Gefängnisses, in dem mehr als 1500 Soldaten Tag und Nacht gerade einmal 40 Gefangene bewachen, mehr als 540 Millionen US‑Dollar. Das macht pro Häftling und Jahr mehr als 13 Millionen Dollar. Dagegen ist die Inhaftierung von Insassen in Gefängnissen auf dem US‑Festland, die die höchste Sicherheitsstufe haben, geradezu billig. Im sogenannten Supermaxknast in den Bergen von Colorado kostet ein Häftling pro Jahr 78.000 Dollar.
Das US‑Militär sorgt gut für seine Wachsoldaten in Guantanamo. Sie haben ihre eigene Kapelle zum Beten und ihr eigenes Kino fürs Vergnügen. Psychologen betreuen die Soldaten. Dabei setzen sie Hunde ein, mit denen ihre Patienten spazieren gehen können. Denn der Wachdienst zehrt an den Nerven und geht ans Gemüt.
Vor einigen Jahren erzählte David Heath, der Chef der Gefängniswärter, Journalisten während einer Gefängnistour, seine Soldaten würden von den Gefangenen immer wieder mit dem sogenannten Cocktail beworfen. Das sei eine Mischung aus Urin, Fäkalien, Sperma und Wasser. Das sei entwürdigend, sagte Heath. Die Soldaten müssten deswegen Schutzanzüge aus Plastik tragen. Dennoch würden die Gefangenen respektvoll behandelt. „Keiner meiner Soldaten hat jemals Vergeltung geübt für eine Attacke mit dem Cocktail“, sagte Heath.
Ob das stimmte, ließ sich nicht überprüfen. Begegnungen mit Gefangenen waren nicht erlaubt, schon gar keine Interviews – nur der Blick durch eine Scheibe mit aufgesetztem Stahlgitter in einen Aufenthaltsraum war gestattet. Dort saß an einem schwülen Apriltag ein älterer Mann mit langem, grauen Bart an einem Tisch und starrte in ein Fernsehgerät. Ein anderer Mann lief pausenlos von einer Wand zur anderen.
Verfahren ziehen sich dahin
Manchmal traten die Gefangenen von Guantanamo in den Hungerstreik, um gegen ihre Behandlung zu protestieren. Das war die Zeit, in der die PR‑Brigaden des US‑Militärs beschönigende Wörter erfanden. Sanitätsoffiziere in Guantanamo waren angehalten, den Hungerstreik als „nicht religiöses Langzeitfasten“ zu bezeichnen. Auch der Ausdruck Zwangsernährung sei nicht angebracht, sagten sie. „Das ist Ernährung per Magensonde.“ Der Schein war wichtiger als das Sein, auch wenn jedem klar war: Das Gegenteil ist richtig.
Inzwischen sind die Gefangenen von Guantanamo älter und ruhiger geworden. Ein Jurist der US‑Marine nannte das Lager auf Kuba „Amerikas winzigstes Gefängnis, das ausschließlich für mutmaßliche Dschihadistengreise reserviert ist“. Die Journalistin Carol Rosenberg, die das Lager regelmäßig besucht, schrieb in der „New York Times“, dass schon seit Jahren nichts mehr vorgefallen sei. Deswegen dürfen die meisten Häftlinge auch gemeinsam essen und gemeinsam beten. Einigen werde erlaubt, an Mal- und Gartenbaukursen teilzunehmen.
Noch sitzen 40 Männer in Guantanamo. Neun von ihnen sind wegen Kriegsverbrechen angeklagt oder bereits verurteilt. Sechs Terrorverdächtige könnten theoretisch freigelassen werden, wenn sich aufnahmebereite Länder fänden. Das ist aber vor allem in Pandemiezeiten wenig wahrscheinlich. 25 Gefangene gelten als so gefährlich, dass sie in Haft bleiben müssen, auch wenn es nach wie vor keine Anklageschrift gegen sie gibt.
Seit einigen Jahren müssen sich einige der Terrorverdächtigen immer wieder in einem eigens gebauten Gerichtskomplex, genannt Camp Justice, den Befragungen eines Militärrichters stellen. Darunter ist Chalid Scheich Mohammed, der als Chefplaner der Anschläge vom 11. September gilt. Er sitzt seit 2004 in Guantanamo.
Doch das Verfahren gegen ihn und vier Mitangeklagte kommt nicht voran. Das sogenannte Militärtribunal in Guantanamo verheddert sich immer wieder in juristischen Feinheiten. Es ist kompliziert und träge. Es bewege sich mit der Geschwindigkeit eines Gletschers, sagen Kritiker in den USA. Die Angehörigen der 9/11-Opfer in den USA beklagen das seit Jahren. Ohne Erfolg. Aller Voraussicht nach wird auch der 20. Jahrestag der Anschläge im kommenden September verstreichen, ohne dass es zu einer juristischen Aufarbeitung der Terrorattacken kommt.
Widerstand im US‑Kongress
Ob der neue US‑Präsident Joe Biden mit seinen Schließungsplänen Erfolg haben wird, ist noch lange nicht ausgemacht. Biden müsste einen Weg finden, die Gefangenen von Guantanamo in Gefängnisse auf dem US‑Festland zu verlegen, um ihnen dort einen regulären Prozess machen zu können. Doch daran ist schon Vorvorgänger Barack Obama gescheitert, dem Biden als Vizepräsident diente. Der Widerstand im US‑Kongress, der die Verlegungen genehmigen muss, war zu groß.
Und schon rüsten Gouverneure und Senatoren verbal auf, um Bidens Plan zu durchkreuzen. Kaum hatte das Weiße Haus vor einigen Tagen erklärt, es wolle sich des Gefängnisses in der Karibik annehmen, meldete sich sofort der republikanische Senator aus Texas, John Cornyn, zu Wort und sagte: „Die Besessenheit der Demokraten, Terroristen in amerikanische Hinterhöfe zu bringen, ist bizarr, fehlgeleitet und gefährlich. Genauso wie bei Präsident Obama werden sich die Republikaner mit Händen und Füßen dagegen wehren.“