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Historischer Abtreibungsprozess in USA: Zurück in die Sechzigerjahre

Die Zukunft der USA? Als Dienstmägde verkleidete Aktivistinnen protestieren vor deem US-Kapitol gegen eine Verschärfung des Abtreibungsrechts.

Die Zukunft der USA? Als Dienstmägde verkleidete Aktivistinnen protestieren vor deem US-Kapitol gegen eine Verschärfung des Abtreibungsrechts.

Washington. Seit Tagen schon hat die Polizei Sperrgitter um den pompösen tempelähnlichen Marmorbau errichtet. Mit heftigen Protesten beider Seiten wird gerechnet, wenn der Supreme Court auf dem Washingtoner Kapitolshügel an diesem Mittwoch die Verhandlung in Sachen „Dobbs gegen Jackson Women‘s Health Organization“ aufnimmt.

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Formal geht es um die Klage des obersten Gesundheitsbeamten von Mississippi gegen die einzige verbliebene Abtreibungsklinik in dem Bundesstaat. Doch tatsächlich steht der Zugang aller amerikanischen Frauen zu legalen Schwangerschaftsabbrüchen auf dem Spiel. Nicht nur die „New York Times“ spricht vom „wichtigsten Fall zum Abtreibungsrecht in einer Generation“. Wenn das Urteil so ausfällt, wie es sich fundamentalistische Christen und „Lebensschützer“ wünschen, wird der Schwangerschaftsabbruch in mindestens zwölf Bundesstaaten der USA künftig ganz verboten werden.

„Wir rufen das Gericht auf, Geschichte zu schreiben“, formulierte der erzevangelikale Ex-Vizepräsident Mike Pence kurz vor Beginn des Prozesses seine Erwartungen. Er forderte den Supreme Court auf, eine fast 50 Jahre alte „Fehlentscheidung“ aufzuheben, „die nicht nur unserer Nation, sondern der Menschheit eine Tragödie auferlegt hat“. Ähnlich argumentieren die Anwälte des konservativen Bundesstaats Mississippi in ihrer Prozessschrift für eine Revision der historischen Entscheidung „Roe gegen Wade“ von 1973, die Schwangerschaftsabbrüche bis zur 24. Woche erlaubt.

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Im Epizentrum des Kulturkampfes

Da es in Amerika kein Bundesgesetz zur Abtreibung gibt, hat das Grundsatzurteil von 1973, das restriktivere Regelungen durch einzelne Bundesstaaten ausschließt, de facto Gesetzeskraft. Das empörte von Anfang an viele Konservative. Inzwischen ist das Thema ins Epizentrum des Kulturkampfes zwischen rechts und links gerückt. Und nie waren die Chancen, das seit einem halben Jahrhundert geltende Recht zu kippen, so groß wie jetzt: Seit der Ernennung dreier konservativer Richter durch Ex-Präsident Donald Trump gibt es am Supreme Court eine rechte Mehrheit von sechs zu drei Stimmen. Viele Beobachter sind überzeugt, das das Verfassungsgericht den seit 2018 schwelenden Rechtsstreit in Mississippi nicht aufruft, ohne ein wegweisendes Urteil zu planen.

Aktivistinnen für weibliche Selbstbestimmungsrechte befürchten das Schlimmste: „Der neue ultrakonservative Supreme Court ist fest entschlossen, den Bundesstaaten das uneingeschränkte Recht zum Verbot der meisten Abtreibungen zu geben“, prophezeien Kathryn Kolbert, die Mitbegründerin des Center for Reproductive Rights, und Menschenrechtsanwältin Julie Kay in einem gemeinsamen Gastbeitrag in der New York Times. Ihr düsteres Fazit lautet: „Roe (das Urteil von 1973, Anm. d. Red.) ist praktisch schon Geschichte.“

Mit dem Urteil des Verfassungsgerichts wird freilich erst im nächsten Sommer gerechnet, und es ist unklar, ob die Mehrheit der Richter tatsächlich das bisherige Abtreibungsrecht komplett außer Kraft setzen wird. Für diesen Fall haben zwölf republikanisch regierte Bundesstaaten schon Vorratsbeschlüsse gefasst, die Schwangerschaftsabbrüche in ihrem Gebiet ganz verbieten und mit hohen Strafen versehen würden. Denkbar wäre auch, dass der Supreme Court beispielsweise die Frist für eine legale Abtreibung verkürzt. Das dürfte einen neuen Streit eröffnen: Der Bundesstaat Texas hat Abtreibungen bereits nach der sechsten Woche selbst bei Inzest und Vergewaltigung verboten. Zu diesem Zeitpunkt wissen viele Frauen noch gar nicht, dass sie schwanger sind. In Mississippi beträgt die Frist 15 Wochen und ist damit sogar drei Wochen länger als in Deutschland. Doch die Verhältnisse hüben und drüben sind angesichts der fehlenden Krankenversicherung, der hohen Kosten und der zu wenigen Abtreibungskliniken, die aufwendige Reisen durchs Land erfordern, kaum zu vergleichen.

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Texas als Modellstaat der „Lebensschützer“

Der republikanisch regierte Bundesstaat Texas vermittelt bereits einen Eindruck, wie die Realität in den USA nach einer Aufhebung des „Roe gegen Wade“-Urteils aussehen könnte. Seit Gouverneur Gregg Abbott dort im Mai das bislang restriktivste Abtreibungsrecht unterschrieb, ist die Zahl der offiziellen Schwangerschaftsabbrüche dort um die Hälfte eingebrochen. Dafür mehren sich Berichte über Frauen, die lebensgefährliche eigene Eingriffe vornehmen oder in überfüllte Kliniken jenseits der Grenze fliehen. Die verbliebenen Abtreibungskliniken sehen sich dem Protest von fanatischen „Lebensschützern“ und den Anzeigen von staatlich bezahlten Denunzianten ausgesetzt. Teilweise müssen sie ihr Personal zu dessen Schutz im benachbarten New Mexico unterbringen.

Den fundamentalistischen Abtreibungsgegnern gefällt das. „In Texas“, schwärmte jüngst John Seago, der Direktor der Abtreibungsgegnertruppe „Texas Right to Life“, bekomme man einen guten Eindruck, „wie eine Welt ohne Schwangerschaftsabbrüche aussieht“.

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