Holocaust-Gedenken: Wir müssen uns sorgen
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Gedenkstunde im Bundestag für die Opfer der Verfolgung durch die Nationalsozialisten: Die Präsidenten Deutschlands und Israels, Steinmeier und Rivlin, umarmen sich.
© Quelle: imago images/epd
Berlin. Gedenken hat oft mehr mit der Gegenwart zu tun als mit der Vergangenheit. Das gilt auch und gerade für das Gedenken an die deutschen Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus. Schließlich musste der heutige Konsens aller demokratischen Kräfte in diesem Land, wonach die Bundesrepublik auf der Mahnung und dem Versprechen „Nie wieder Auschwitz“ fußt, im Laufe der Jahrzehnte erst erarbeitet, errungen, ja: erkämpft werden.
Auch den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus und die damit verbundene Gedenkstunde im Deutschen Bundestag, die an diesem Mittwoch begangen wurde, gibt es ja erst seit 1996.
Neue Töne mischen sich ins Gedenken
Im Umkehrschluss heißt das: Wie die Deutschen des Holocausts gedenken, ist nicht für alle Zeit entschieden. Wer sagt, dass künftige Mehrheiten die Gedenkstunde im Bundestag, wie sie an diesem Mittwoch stattfand, nicht wieder abschaffen? Und was hieße das dann?
Solche Fragen müssen wir uns stellen, wenn sich ins Gedenken in diesem Jahr bislang unbekannte Töne mischen: Wenn Anhänger einer im Bundestag vertretenen Partei fragen, wann der deutsche „Schuldkult“ endlich ende. Wenn Politiker der „bürgerlichen Mitte“ selbst am Gedenktag nichts dabei finden, die deutsche Schuld ins Verhältnis zum muslimischen Antisemitismus zu setzen. Und wenn das Staatsoberhaupt, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, in Israel wie im Bundestag schmachvoll einräumen muss: Die Selbstgewissheit war trügerisch, die Deutschen hätten ein für allemal verstanden.
Zu Recht warnte Steinmeier in seiner Gedenkrede, dass „der alte Ungeist“ von Ausgrenzung, Nationalismus und autoritärem Denken sich inzwischen wieder als „Antwort auf die offenen Fragen unserer Zeit“ anbiete und dass uns „unsere Zeit genau daran prüft“.
In letzter Konsequenz muss diese Einsicht sogar die Sorge auslösen, ob die Demokratie auch in Krisenzeiten stark genug ist, um eine Tyrannei der Mehrheit wirklich zu verhindern.
Das wahre Wunder überflügelt die Tagespolitik
Die Antworten der Demokraten auf all diese Fragen fallen höchst unterschiedlich aus. Das zeigte sich auch in der Gedenkstunde des Bundestages, als Israels Präsident Reuven Rivlin seinen historischen Auftritt für einige tagesaktuelle Bemerkungen zum umstrittenen Nahostplan von Donald Trump nutzte. Verständlich ist das allemal: Ein Staat, der sich als jüdisch und demokratisch versteht, muss seinerseits aus dem Holocaust folgern, seine unbestreitbar existenzielle Bedrohung ernst zu nehmen.
Das Wunder dieses Tages aber überflügelt die Tagespolitik: Es besteht darin, dass Israel das heutige Deutschland als Partner, als Mitstreiter und sogar als Freund sieht. Auch das dürfen wir nicht verspielen.