Hongkongs Exodus
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Ein Land, ein System? Hongkongs Autonomie wird von Peking immer weiter an den Rand gedrängt.
© Quelle: imago images/ZUMA Wire
Hongkong. Wenn John mit Freunden in einem Restaurant sitzt, ist er vorsichtig, was er sagt. „Du weißt nie, ob am Nachbartisch gerade jemand mithört und ob dir dann irgendwas zum Verhängnis wird.“ Vor Kurzem habe der IT-Spezialist, der seine wahre Identität nicht nennen möchte, so ein Erlebnis gehabt. „Ein Kollege und ich haben uns über die strenge Corona-Politik Hongkongs aufgeregt. Und ein Typ in Hörweite schaute ständig zu uns rüber.“ Ob der wirklich zuhören konnte, weiß John nicht.
Aber schon das Unbehagen, dass dies der Fall sein und schwere Folgen haben könnte, sei ein Problem. Und zwar eines, das man in der jüngeren Vergangenheit Hongkongs noch nicht verspürte. „Als ich vor fünf Jahren für meinen Job aus Großbritannien nach Hongkong zog, konnte man seine Meinungen klar äußern. Aber heute könnte alles Mögliche als politisches Statement gelten und angeblich die nationale Sicherheit bedrohen.“ Und das ist für den heutigen Hongkonger Staat ein rotes Tuch.
Es drohen lebenslange Gefängnisstrafen
Seit Juli 2020 gilt im einst autonomen Stadtstaat an der Südostküste Festlandchinas das sogenannte Nationale Sicherheitsgesetz, das auf diverse Aktivitäten, die aus Sicht Chinas ebendiese Sicherheit bedrohen, mit bis zu lebenslangen Gefängnisstrafen droht. Beschlossen wurde das Gesetz nicht etwa in Hongkong, sondern im Volkskongress in der chinesischen Hauptstadt Peking. Dort veränderte man damit nicht nur empfindlich die Lebensrealität vieler Menschen, sondern reklamierte auch für die Zukunft unmissverständlich die Oberhand über das politische Geschehen in Hongkong.
Im August dieses Jahres deutete sich einmal mehr an, wie weitreichend die Folgen des Nationalen Sicherheitsgesetzes sind. Die jährliche Bevölkerungsstatistik ergab, dass die Sonderverwaltungszone Hongkong geradezu einen Aderlass erleidet. Im vergangenen Jahr schrumpfte die Bevölkerung dort von 7,41 auf 7,29 Millionen Menschen. Diese Abnahme von 1,6 Prozent oder rund 113.000 Personen ist die stärkste seit Beginn solcher Statistiken im Jahr 1961.
Hongkonger Regierungsverantwortliche erklären dies mit der Pandemie und dem Umstand, dass es in einer alternden Gesellschaft wie jener der Halbinsel nun mal vorkommt, dass in einem Jahr mehr Menschen sterben als zur Welt kommen. Kritische Stimmen betonen aber insbesondere in Bezug auf die Pandemie, dass Hongkongs Maßnahmen bis jetzt wesentlich strenger gewesen sind als die anderswo. Lange Zeit blieb der Flugverkehr stark unterbrochen, die Grenzen wurden streng reguliert.
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Polizeibeamte bewachen Ende 2021 das Gebäude der Onlinepublikation „Stand News“ in Hongkong. Damals wurden abermals mehrere Journalisten und ehemalige Mitarbeiter eines prodemokratischen Mediums festgenommen.
© Quelle: Vincent Yu/AP/dpa
Noch weniger Freiheit als befürchtet
Dies wiederum führen viele nicht nur auf die Gefahren von Covid-19 zurück, sondern auch auf die politische Lage in Hongkong: Pandemiepolitik als Mittel zur Kontrolle der Opposition. Entsprechend betonte das kritisch eingestellte Nachrichtenportal „Hongkong Free Press“ dieser Tage: „Während Statistiken, wie etwa die steigende Anzahl von Personen, die sich um ein britisches Visum bewerben, um nach Großbritannien umzusiedeln, auf einen Massenexodus von Hongkongern hinweisen, hat die Regierung das Ausmaß des Phänomens dementiert.“
Das Portal weist darauf hin, dass der Bevölkerungsrückgang zwar in der Pandemie begann, aber eben auch auf massive Proteste gegen ein Auslieferungsgesetz folgte, das es ermöglichen sollte, Personen, die in Hongkong in Konflikt mit dem Gesetz geraten, für einen Prozess nach Festlandchina auszuliefern. Als ein Jahr später das Nationale Sicherheitsgesetz verabschiedet wurde, war das Niveau der Freiheit in Hongkong plötzlich noch viel stärker kompromittiert als von Kritikerinnen und Kritikern befürchtet.
Die anfangs friedlichen Proteste dagegen sind seitdem vermehrt unterdrückt worden. Im Mai veröffentlichte die in Washington DC ansässige NGO Hong Kong Democracy Council einen Report, demzufolge Hongkong mehr als 1000 politische Gefangene zählt, während es zu Beginn der Massenproteste im Juni 2019 nur eine Hand voll gewesen seien. Mehr als 10.500 Festnahmen habe es gegeben und fast 3000 Anklagen gegen Aktivisten, Gewerkschafterinnen, Journalisten, Lehrerinnen, Oppositionspolitiker. Hongkong verfalle in „Autoritarismus“.
Britisches Visum für Hongkonger
Die britische Regierung bietet Hongkonger Bürgerinnen und Bürgern aufgrund des Sicherheitsgesetzes die Möglichkeit, ein Aufenthaltsvisum im Vereinigten Königreich für bis zu fünf Jahre zu beantragen. Die Behörden in London gehen davon aus, dass insgesamt rund 300.000 Menschen der einstigen Kronkolonie davon Gebrauch machen werden.
Es ist ein Bild, das über Jahrzehnte kaum zum Stadtstaat gepasst hätte. Während seiner 99-jährigen Zeit als britische Kolonie war Hongkong zwar kaum eine Demokratie, aber es bestanden Freiheiten wie das Recht auf Presse- und Meinungsfreiheit. Bei der Rückgabe an China 1997 wurde vereinbart, dass der Autonomiestatus über zumindest 50 Jahre bestehen solle, die Menschen in Hongkong zudem ein Wahlrecht erhalten würden. Nur zeigte sich bald, dass die chinesische Regierung in Peking wenig Interesse daran hatte, dass aus Hongkong eine Demokratie würde.
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Standort vieler Betriebe: das Finanzzentrum von Hongkong Island.
© Quelle: imago images/Grant Rooney
Hongkong hat seinen Ruf verloren
Seit das Nationale Sicherheitsgesetz mit seinen vagen Eingrenzungen des Erlaubten Gültigkeit hat, erfährt Hongkong auch einen Exodus von Unternehmen. „Asiens globale Stadt“, wie Hongkong lange genannt wurde, büßt seinen Status auch deshalb empfindlich ein, weil andere asiatische Metropolen wie Seoul, Tokio oder Taipeh mit Standortpolitik um Unternehmen werben. Seinen Ruf und auch sein Selbstverständnis als Ort der Freiheit hat Hongkong mittlerweile verloren.
Das zeigt sich auch daran, wie Menschen heute über Politik sprechen. Als das Nationale Sicherheitsgesetz vor gut zwei Jahren verabschiedet wurde, wurde noch öffentlich darüber gestritten, voller Wut und Hoffnung. Als die ersten Festnahmen folgten und prominente Figuren der Demokratiebewegung ins Gefängnis mussten, schrumpfte bei den meisten regierungskritisch eingestellten Personen in Hongkong der Mut, für ihre Meinung mit dem eigenen Namen zu stehen.
John, der nur unter der Bedingung der Anonymität spricht, ist heute der Regelfall. Wie lange er noch in Hongkong bleiben will, wisse er nicht. Allerdings sei er froh, dass er einen britischen Pass habe.