Ich habe das Video des Attentäters angesehen – und bereue es
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Der Amokläufer von Halle filmte seine Tat über eine Kamera an seinem Helm.
© Quelle: ATV-Studio/AP/dpa
Mir war klar, dass ich es nicht tun sollte. Eigentlich. Ich wusste: Es würde mir in keiner Weise helfen, das Video anzusehen, das der Amokläufer von Halle über die Kamera an seinem Helm live ins Internet gestreamt hatte, während er zwei wehrlose Menschen erschoss.
Ich würde keine neuen Informationen und kein besseres Verständnis von der Tat bekommen. Ich würde nicht aufhören darüber nachzudenken, was sich in diesen schrecklichen Minuten in Halle abgespielt haben musste. Und es würde mir vor allen Dingen nicht helfen, die erschütternde Erkenntnis zu verarbeiten, dass es in diesem Land Leute gibt, die aus Fremdenhass mit einem Auto voller Waffen durch eine Stadt fahren, um möglichst viele Unschuldige zu erschießen. Das war mir alles klar. Eigentlich.
Das Video macht längst die Runde
Am Ende hat schlicht die Neugier gesiegt. Sie war größer als es alle Bedenken waren. Ich mache mir keine Illusion, dass es heute vielen anderen auch so ging wie mir. Das Video vom Amoklauf macht weiterhin die Runde.
Der Zugang zum Video war leicht. Theoretisch hätte ich es mir sogar live ansehen können – der Täter hatte es im Internet auf der Plattform Twitch gestreamt, auf der man sonst Gamern beim Computerspielen zusehen kann. Inzwischen wandern Ausschnitte des Livestreams durch das Internet, landen in WhatsApp-Gruppen, werden weiter geschickt und sich gegenseitig auf dem Smartphone gezeigt. Auch bei mir hat sich das so abgespielt.
Wie kann man so ein Video nüchtern kommentieren?
Ich sah das Video – nicht alles, aber Ausschnitte – und fühlte mich in einem Augenblick dreimal miserabler als am Tag des Amoklaufs selbst. Erstens, weil ich wieder wütend wurde. Wie konnte es sein, dass so etwas überhaupt passiert – in Deutschland oder irgendwo sonst auf der Welt? Wie fehlgeleitet kann ein Mensch sein, um so etwas zu tun? Und wie viele Menschen sind sonst noch so fehlgeleitet in Deutschland?
Zweitens, weil ich weiß, wie nüchtern das Video teilweise kommentiert wird. Da geht es mehr darum, wie „dumm“ der Amokläufer sich anstelle, weil er seine Waffen nicht richtig laden könne und auch noch in den Reifen des eigenen Autos schoss. Als wäre es Comedy. Aber hier gibt es rein gar nichts zu belächeln. Andere Kugeln trafen nicht das Auto, sondern eine unbeteiligte Passantin kaltblütig in den Rücken.
Drittens: Ich schäme mich maßlos vor dieser Frau, die hinterrücks erschossen wurde. Ich hätte nicht sehen sollen, was mit ihr geschah, ungefiltert und unzensiert. Das war nicht nötig, nicht für mich, noch für sonst irgendjemanden, der nicht an der Aufarbeitung des Falls beteiligt ist. Die Schüsse, die der Täter in dem Imbiss auf sein zweites Opfer abgegeben hat, habe ich mir schon nicht mehr angeschaut. Da hatte ich meinen moralischen Kompass wohl wiedergefunden.
Ich bin kein Händler dieser Gewalt
Ich selbst habe das Video gelöscht, will und werde es niemanden zeigen oder schicken. Warum auch? Für wen soll das gut sein? Damit würde die Würde der Opfer mit Füßen getreten und der Botschaft des Amokläufers eine Plattform gegeben. Und ich wäre einer von vielen Händlern dieser Brutalität.