Israel: Widerstand gegen Justizreform bringt Netanjahu an seine Grenzen
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Der israelische Premierminister Benjamin Nethanyahu am Dienstag in der Knesset.
© Quelle: IMAGO/UPI Photo
Jerusalem. Als Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Montag seine umstrittene Justizreform auf Eis legte, versprach er, das Gesetzespaket am Ende auf jeden Fall durchs Parlament zu bringen. Doch es könnte ihm schwer fallen, dieses Versprechen auch wirklich zu halten. Solch großen Widerstand hat selbst ein politisches Schwergewicht wie Netanjahu in seiner 30-jährigen Karriere noch nicht erlebt und seine Kehrtwende in dieser Woche hat ihn weiter geschwächt.
Erneut heftige Proteste gegen geplante Justizreform in Israel
Nach dem Aufschub der umstrittenen Justizreform durch Premierminister Netanjahu kam es erneut zu Zusammenstößen zwischen Polizei und Protestierenden.
© Quelle: Reuters
Seit fast drei Monaten gingen Woche für Woche Zehn- und auch Hunderttausende Menschen auf die Straße, um gegen die Reform zu protestieren. Sie legten wichtige Autobahnen und Hauptverkehrsstraßen lahm und warfen dem Regierungschef vor, das Land Richtung Autokratie zu führen. Auch einflussreiche Gewerbetreibende und ausländische Verbündete stellten sich gegen ihn. Am besorgniserregendsten für Israel war vielleicht, dass wichtige Militärreservisten drohten, sich nicht mehr zum Dienst zu melden – allen voran Kampfpiloten.
Premierminister in der Sackgasse
Zwar hat Netanjahu die nötige Unterstützung im Parlament, um die Reform durchzudrücken, doch die Aussicht auf anhaltende Proteste und wirtschaftliche, diplomatische und sicherheitspolitische Schäden war zu groß für ihn. „Er hat verstanden, dass er sich in einer Sackgasse befindet“, sagt Johanan Plesner, Präsident der Jerusalemer Denkfabrik Israel Democracy Institute.
Plesner zufolge ist Netanjahus Notbremsung in dieser Woche kein „innenpolitisches Friedensabkommen“ zwischen Israelis: „Es handelt sich vielmehr um einen Waffenstillstand, vielleicht um sich zu sammeln, neu zu organisieren, neu zu orientieren und dann möglicherweise weiterzumachen.“
Umstrittene Justizreform in Israel: Netanjahu kündigt Abschwächung an
Nach mehr als zwei Monaten massiver Proteste hat Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu eine Abschwächung der geplanten Justizreform angekündigt.
© Quelle: Reuters
Es gibt nach dem ereignisreichen Montag keine Hinweise darauf, dass die eigentlichen Streitpunkte verschwinden könnten. Vielmehr scheinen Netanjahus Gegner vom Erfolg der Proteste gestärkt und ermutigt. „Die Demonstranten, die auf die Straße gehen, sind nicht dumm“, erklärte die Protestbewegung am Dienstag. „Die Regierung wird den Justizputsch nicht durchsetzen können, weil die Millionen Bürger, die bisher protestiert haben, nicht aufgeben werden.“ Andere Protestgruppen erklärten, sie würden ihre Aktivitäten aussetzen, aber wenn nötig auch wieder in Aktion treten.
Ein Großteil von Netanjahus misslicher Lage ist auf seine eigenen Probleme mit dem Gesetz zurückzuführen. Seit er 2019 wegen Korruption angeklagt wurde, ließen ihn eine Reihe von ehemaligen Partnern und Verbündeten im Stich, was das Land ins politische Chaos stürzte – mit fünf Wahlgängen in nicht einmal vier Jahren.
Gewagte Koalition mit rechts außen
Als Netanjahu nach der letzten Abstimmung im November wieder eine parlamentarische Mehrheit erreichte, war er auf die Unterstützung ultraorthodoxer und ultranationalistischer Parteien angewiesen, um die am weitesten rechts stehende Regierung in der Geschichte des Landes zu bilden.
Diese Koalitionspartner brachten die USA und andere westliche Verbündete wie auch Israels neue arabische Partner im Golf gegen sich auf, indem sie den Bau von Siedlungen im Westjordanland aggressiv vorantrieben und umstrittene Äußerungen über die Palästinenser machten. Innenpolitisch verprellten diese Partner große Teile der israelischen Öffentlichkeit – vor allem säkulare Steuerzahler aus der Mittelschicht – mit Forderungen, die weithin als religiöser Zwang oder Verstoß gegen die Rechte von Palästinensern, LGBTQ-Menschen oder anderen Minderheiten angesehen werden.
Ultraorthodoxe wollen zum Beispiel ein System ausbauen, das sie von der Wehrpflicht ausnimmt, damit sie religiöse Texte studieren können. Am Dienstag setzte Netanjahus Koalition ein Gesetz durch, das es Krankenhäusern erlaubt, während des Pessachfestes, an dem religiöse Juden keine gesäuerten Lebensmittel essen, die Anlieferung von Brot in ihren Einrichtungen zu verbieten.
Der bisher umstrittenste Schritt der Regierung war jedoch der geplante Umbau der Justiz. Zu den wichtigsten Bestandteilen gehören Gesetzesvorlagen, die es der Regierung ermöglichen würden, die Ernennung von Richtern zu kontrollieren und missliebige Entscheidungen des Obersten Gerichts aufzuheben.
Netanjahu steht selbst vor Gericht
Netanjahus konservative Verbündete betonen, die Gesetze seien notwendig, um Richtern Einhalt zu gebieten, die nicht gewählt seien und sich zu sehr in politische Angelegenheiten einmischten. Seine Kritiker argumentieren hingegen, die Reform würde die demokratische Gewaltenteilung untergraben und die Macht in den Händen des Regierungschefs und seiner extremistischen Partner bündeln. Sie werfen Netanjahu zudem einen Interessenkonflikt vor, wenn er versuche, das Rechtssystem des Landes umzuformen, während er selbst vor Gericht stehe.
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Die Proteste brachten die größten Städte des Landes zum Stillstand, durchkreuzten Netanjahus Reisepläne und zwangen sogar seine Frau, unter starkem Polizeischutz aus einem Friseursalon in Tel Aviv zu fliehen. Am Sonntag kochte der öffentliche Zorn endgültig über, als Netanjahu abrupt seinen Verteidigungsminister Joav Galant entließ, der den Ministerpräsidenten zum Aufschub der Reform gedrängt hatte.
Innerhalb einer Stunde gingen Hunderttausende Menschen im ganzen Land auf die Straße, blockierten eine wichtige Autobahn in Tel Aviv und lieferten sich vor Netanjahus Haus in Jerusalem Auseinandersetzungen mit der Polizei.
Erster Generalstreik wegen einer politischen Frage
Die Proteste setzten sich am Montag fort, als Zehntausende vor das Parlament in Jerusalem zogen, während die Gewerkschaft Histadrut einen Generalstreik ankündigte. Es war das erste Mal, dass die Gewerkschaft wegen einer politischen Frage zu einer solchen Maßnahme griff, was die Streichung von Flügen und die Schließung von Büros im ganzen Land zur Folge hatte.
Am Montagabend schließlich stoppte Netanjahu seinen Plan vorerst bis zur Sommersitzungsperiode des Parlaments, die Ende April beginnt. Bis dahin werde er sich um eine „breite Einigung“ bemühen, so der Ministerpräsident. „Wir werden eine Reform umsetzen, die das verlorene Gleichgewicht zwischen den Gewalten wieder herstellt, so oder so“, sagte er.
US-Präsident Biden drängt Netanjahu zur Aufgabe der Justizreform
Netanjahu reagierte umgehend mit einer Erklärung: Israel sei ein souveränes Land, das seine Entscheidungen nach dem Willen des Volkes treffe.
© Quelle: Reuters
Der Generalstreik wurde abgebrochen. Galant blieb im Amt, und am Dienstagabend begannen die Verhandlungen zwischen der Regierung und der Opposition. Nach Angaben des Büros von Staatspräsident Izchak Herzog, das in den Gesprächen vermittelt, herrscht ein „positiver Geist“, die Treffen würden am Mittwoch fortgesetzt.
Umfragen: Unterstützung für Netanjahu sinkt
Doch eine Einigung ist nicht in Sicht, und Netanjahu ist angeschlagen. Neue Meinungsumfragen, die am späten Montagabend veröffentlicht wurden, zeigen einen drastischen Rückgang der Unterstützung für den Ministerpräsidenten – sogar unter Anhängern seiner Likud-Partei: Eine für Kanal 12 durchgeführte Umfrage ergab, dass 58 Prozent der Likud-Wähler die Entlassung von Galant ablehnten, während nur 22 Prozent sie befürworteten. 60 Prozent der Likud-Wähler fanden das Einfrieren der Reform gut, während 55 Prozent Netanjahus Amtsführung als „schlecht“ bezeichneten.
Laut Anschel Pfeffer, Kolumnist in der Tageszeitung „Haaretz“, wird Netanjahu es schwer haben, den Plan wiederzubeleben. Demnach ist die Koalition nun gespalten, während die Opposition auf der Straße durch ihre Erfolge motiviert sei. „Der Kampf um die Zukunft der israelischen Demokratie ist noch lange nicht vorbei. Es wird weitere Runden geben“, schreibt er. „Doch die Opposition hat nicht nur diese Runde gewonnen, indem sie Netanjahu zwang, das Gesetz zu stoppen. Sie geht stärker und geeinter als die Koalition aus dieser Runde hervor, und ist für die nächste Runde, wann immer sie kommt, bestens gerüstet.“
RND/AP