Die Kritik an Merkel ist scheinheilig
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Ein Bild aus sehr viel besseren Tagen: Russlands Präsident Wladimir Putin mit Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2006 in Dresden. Beide nahmen damals an der Abschlusssitzung des Petersburger Dialogs teil, einer Runde aus Wirtschaftsführern und Intellektuellen aus Deutschland und Russland, die sich damals noch regelmäßig trafen.
© Quelle: dpa
Die Wut von Wolodymyr Selenskyj versteht jeder. Gerade wurden Hunderte seiner Bürger, wehrlose Zivilisten, von russischen Soldaten ermordet.
Der ukrainische Präsident fordert jetzt die frühere Kanzlerin Angela Merkel und den früheren französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy auf, ins ukrainische Butscha zu fahren, „um sich mit eigenen Augen anzusehen, wozu die Politik der Zugeständnisse gegenüber Russland geführt hat“. Beide hätten der Ukraine im Jahr 2008 die Mitgliedschaft in der Nato verweigert – und damit den Boden bereitet für die Kriegsverbrechen, die jetzt in der Ukraine geschehen.
Ist dieser Vorwurf gerecht?
Auch George W. Bush hat sich geirrt
In Wirklichkeit konnte im Jahr 2008 die deutsche Kanzlerin beim besten Willen nicht ahnen, was sich 14 Jahre später ereignen sollte. Zur Erinnerung: Damals regierte in der Ukraine noch ein Präsident namens Wiktor Juschtschenko. Die Verhältnisse in Kiew waren, vorsichtig ausgedrückt, unausgereift. Auf Juschtschenko folgte später der korrupte Nato-Gegner Wiktor Janukowytsch. Der wiederum musste weichen, als die orangene Revolution auf dem Maidan siegte und das Land wieder westwärts schubste. Dieser Umsturz wiederum ließ dann Putin zittern.
Baerbock zu Massaker in Butscha: „Die Bilder sind unerträglich“
Nach dem Abzug russischer Truppen lägen Tote auf den Straßen, berichtet der ukrainische Außenminister und forderte „vernichtende“ Sanktionen gegen Russland.
© Quelle: Reuters
Einfach zurückzuspulen ins Jahr 2008 und zu sagen, damals hätten Deutschland und Frankreich Fehler gemacht, ist nicht fair. Haben sich Merkel und Sarkozy in Putin getäuscht? Ja, gewiss. Aber das gilt zum Beispiel auch für den damaligen US-Präsidenten George W. Bush, der schon nach seinem ersten Treffen mit Putin verkündete: „Ich habe dem Mann in die Augen gesehen. Ich halte ihn für direkt und vertrauenswürdig. Ich war in der Lage, einen Eindruck von seiner Seele zu gewinnen.“
Unter Barack Obama schoben die USA den Krimkonflikt den Europäern zu. Auch dies entpuppt sich in der Rückschau als problematisch. Will Selenskyj auch Obama mal nach Butscha einladen? Oder sortiert er seine Anwürfe machtpolitisch?
Einfache Erklärung in schwierigen Zeiten
Die historische Wahrheit ist: Die Minsker Waffenstillstandsvereinbarungen zwischen Moskau und Kiew mussten Merkel und der damalige französische Präsident Francois Hollande aushandeln. An gutem Willen der Moderatoren mangelte es nicht in Minsk. Merkel, die den Teufel fürchtete, der im Detail stecken kann, begleitete damals sogar persönlich noch die nächtliche Ausformulierung aller kleingedruckten Passagen in den Vertragstexten. Ihr Rund-um-die-Uhr-Einsatz ist bis heute legendär.
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Minsker Gespräche im Februar 2015: Putin (links) sitzt zusammen mit dem Präsidenten von Frankreich, Francois Hollande, Merkel und dem Präsidenten der Ukraine, Petro Poroschenko.
© Quelle: imago/ITAR-TASS
Zur gleichen Zeit übrigens stand Selenskyj noch in poststudentischer Pose als Komiker auf ukrainischen Theaterbühnen. Wenn er jetzt Merkel im Nachhinein belehren und sie zum Schauplatz eines Massenmords zitieren will, muss er aufpassen, dass er in seinem mehr als verständlichen Zorn nicht völlig die Maßstäbe verliert. Unermüdlich hat Merkel in der oft auseinander strebenden EU in den Jahren nach 2014 immer wieder dafür gesorgt, dass die Sanktionen gegen Russland wegen der Annektion der Krim verlängert werden. Mal mussten die Griechen, mal die Österreicher, mal die Ungarn auf Linie gebracht werden. Ist das plötzlich alles vergessen?
In der Ukraine beweist sich jetzt eine alte, allerorten geltende Regel: In schwierigen Zeiten haben einfache Erklärungen Konjunktur.
Auch in der deutschen Innenpolitik zeigen mittlerweile viele mit dem ausgestreckten Finger auf Merkel. Hat sie nicht die Abhängigkeit von Russland gleich doppelt gesteigert, erst mit dem 2011 verfügten Atomausstieg, dann mit dem Versuch, im Übergang zu klimaneutralem Wirtschaften noch mehr russisches Gas als bisher zu nutzen.
Ja, manches lief schief unter Merkels Ägide
Sachlich ist diese Kritik berechtigt. Politisch aber ist sie scheinheilig. Denn Merkels Kurs war zu allen Zeiten getragen von sehr breiten parteiübergreifenden Mehrheiten in Deutschland. Beim Gas mischte die Schröder-Schwesig-SPD kräftig mit, über den Atomausstieg freuten sich besonders die Grünen. Und Merkel tat, was sie immer tat: Sie moderierte, führte von hinten, verknüpfte lose Enden, alles in guter Absicht. Noch Monate nach ihrer Abwahl, viele haben das schon vergessen, war sie Deutschlands beliebteste Politikerin.
Inzwischen müssen Land und Leute den Gedanken zulassen, dass manches schieflief unter Merkels Ägide. Ja, die Kanzlerin irrte sich in Putin. Aber ganz Deutschland irrte sich eben auch. Entsprechend sollten die aktuellen Debatten über Kurskorrekturen geführt werden: umsichtig, fair, auf einen neuen Konsens orientiert.
Für die Ampelkoalition könnte in den drei bevorstehenden Landtagswahlen (Schleswig-Holstein, NRW, Niedersachsen) eine Verlockung darin liegen, Merkel zur Schuldigen zu erklären. Ein Sündenbock wäre gefunden. Doch bei jeder Wahlkampfrede dieser Art läge eine mit Händen greifbare Unredlichkeit in der Luft. Es wäre unfair und unhistorisch zugleich. Mit dem gleichen Recht könnte die CDU am Wahlkampfstand breitbeinig verkünden: 16 Jahre Merkel waren 16 Jahre Frieden.