„Jetzt kommen die schwierigen Zeiten“: Warum ukrainische Bauern vor einem ganz schweren Winter stehen
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Brennendes Weizenfeld in Polohy in der Region Saporischschja: Im Sommer haben russische Truppen gezielt ukrainische Felder beschossen, um die Ernte zu vernichten.
© Quelle: -/Ukrinform/dpa
Berlin. Russlands brutaler Angriffskrieg in der Ukraine schlägt auch auf die Landwirtschaft durch. Zwar haben die ukrainischen Bauern unter Kriegsbedingungen noch eine relativ gute Ernte eingefahren, aber die Aussichten für 2023 geben Landwirtschaftsexperten wenig Anlass zu Optimismus.
„Jetzt kommen die schwierigen Zeiten, wenn jetzt nicht ausgesät wird, dann kann man im nächsten Jahr nichts ernten“, sagt Per Brodersen, Geschäftsführer German Agribusiness Alliance beim Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Nach seiner Beobachtung geht der Absatz von Saatgut in der Ukraine derzeit zurück, weil den Landwirten entweder das Geld fehlt, um welches zu kaufen, oder weil sie der Situation nicht trauen und skeptisch sind, dass sie die Früchte ihrer Saat im nächsten Jahr auch ernten können. Brodersen plädiert dafür, dass die Politik den Ankauf von Saatgut mit westlichen Bürgschaften absichert, damit die Felder bestellt werden können.
Nach einer Rekordernte 2021 von 106 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten, hat die Ukraine in diesem Jahr bislang 64 Millionen Tonnen eingefahren, wobei noch etwas Mais auf den Feldern steht. „Die Ernte ist noch nicht ganz abgeschlossen, rund 82 Prozent der Flächen, die beerntet werden sollten, sind geschafft“, berichtet Brodersen und fügt hinzu: „Die Lager sind gefüllt, die Binnenversorgung in der Ukraine ist in jedem Fall gesichert.“
Schlechter steht es um die Exporterlöse, die durch die wochenlange Exportblockade Russlands am Schwarzen Meer zurückgegangen sind. Konnte die Ukraine 2021 gut 25 Millionen Tonnen Getreide exportieren, sind es in diesem Jahr rund 30 Prozent weniger. Seit Beginn des Getreideabkommens mit Russland Anfang August konnten 510 Schiffe mit 12,4 Millionen Tonnen das Land auf dem Seeweg verlassen.
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Weitere fünf Millionen Tonnen konnten per Eisenbahn und Lkw über Rumänien und Polen exportiert werden, wozu die Kapazitäten auch mit westeuropäischer Hilfe aufgestockt wurden. Problematisch bleibt die noch aus Sowjetzeiten stammende Eisenbahn-Spurweite in der Ukraine, die zwar nur um 85 Millimeter vom EU‑Standard abweicht, aber dennoch ein zeitaufwendiges Rangieren und Umspuren an Umschlagbahnhöfen nötig macht.
Wie die Industrie- und Handelskammer (IHK) Ulm bereits im Sommer berichtete, hat Rumänien zwischen seinem Donauhafen Galati und dem Grenzdorf Giurgiulesti in der Republik Moldau, bis wohin ukrainische Güterzüge fahren können, ein Stück Breitspurbahn instand gesetzt. Seit Anfang Juli können nun die Züge bis nach Galati rollen. Von dort aus werde die Ladung über die Donau zum rumänischen Schwarzmeerhafen Constanta verschifft, heißt es in dem IHK‑Bericht.
Dr. Per Brodersen ist Geschäftsführer German Agribusiness Alliance beim Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft.
© Quelle: BDI
Der Exportrückgang hat in der Ukraine verschiedene negative Effekte: Den Bauern fehlen Einnahmen, und dann erhöht sich das Getreideaufkommen im Land selbst, wodurch auf dem Binnenmarkt die Preise fallen. Und nicht zuletzt landet weniger Getreide auf dem Weltmarkt, was dort wiederum zu Verknappung und Preiserhöhung führt. „Für die Welternährung ist wichtig, dass der Weltmarkt beliefert wird, egal ob ukrainisches Getreide nach Afrika oder nach Westeuropa geht“, sagt Brodersen.
Wenn das Angebot vergrößert werde, würden auch die Preise fallen, das sei wie bei Öl und Gas. Russland spiele sich jetzt als Anwalt der ärmsten Länder auf, erhebt aber eine Extrasteuer von 50 Euro pro Tonne für seine Getreideexporte, erschwert somit die Ausfuhr und verringert letztlich das Angebot. „Russland ist ein wichtiger Player im globalen Getreidemarkt, der viel Unsicherheit säen kann und in der Ukraine einen gewichtigen Konkurrenten sieht“, erklärt Brodersen.
Russland hat bis Ende November 155 Millionen Tonnen Getreide geerntet und nach Angaben des russischen Agrarministeriums 2021 und in diesem Jahr jeweils rund 13 Millionen Tonnen Weizen exportiert. „Bis zum Ausbruch des Krieges hatten viele nicht so richtig im Blick, wie stark die Welternährung mit Russland und der Ukraine verbunden ist“, sagt Brodersen.
Die ukrainische Landwirtschaft hat sich in den letzten 20 Jahren sehr gut entwickelt und durch massive Investitionen in große Strukturen stark an Produktivität zugelegt. „Der Agrarsektor hat zuletzt Jahr für Jahr rund 10 Prozent zum gesamten Bruttoinlandsprodukt des Landes beigetragen“, berichtet Brodersen. Daran hätten auch etwa ein Dutzend deutsche Unternehmen Anteil, die dort große Höfe ab 100 Hektar aufwärts bewirtschaften. Zudem hätten Landmaschinenhersteller wie etwa Claas in der Ukraine einen lohnenden Absatzmarkt gefunden.
Mit Blick auf den Winter hebt Agrarexperte Brodersen hervor, dass jetzt in der Weiterverarbeitung ein großer Bedarf an Elektrogeneratoren herrscht, beispielsweise, um Milch zu kühlen, Getreide zu trocknen oder die Mühlen zu betreiben, die das Korn zu Mehl mahlen. „Auch hier ist es wichtig, dass Deutschland weiterhin stark unterstützt“, betont Brodersen.