Temperatureinbrüche, Schnee, Stromausfälle: Kiew bereitet sich auf bitteren Winter vor
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Menschen gehen an einer Ausstellung zerstörter russischer Panzer und gepanzerter Fahrzeuge vorbei, nachdem es in der Innenstadt geschneit hat.
© Quelle: Andrew Kravchenko/AP/dpa
Kiew. Wenn der Strom ausfällt, fühlt es sich in der Wohnung von Anastasia Pyroschenko in Kiew an wie in einer Todesfalle: kein Licht, kein Wasser - und kein Aufzug, mit dem sie bei einem russischen Raketeneinschlag aus dem 21. Stock auf die Straße fliehen könnte.
„Die russischen Angriffe stürzen die Ukraine in die Steinzeit“, sagt Pyroschenko. In ihrem 26-stöckigen Hochhaus fällt der Strom oft aus. Und wenn er da ist, bleibt er nicht lange. Unter solchen Bedingungen, sagt Pyroschenko, sei ein Leben in ihrer Wohnung nicht mehr auszuhalten gewesen. „Unser Gebäude ist das höchste in der Gegend und ein beliebtes Ziel für russische Raketen“, erklärt die 25-Jährige. „Deshalb haben wir unsere Wohnung verlassen und sind zu unseren Eltern gezogen, wo wir uns auf den schlimmsten Winter unseres Lebens vorbereiten.“
Massiver Raketenangriff auf das ukrainische Stromnetz
Seit dem massiven Raketenangriff auf das ukrainische Stromnetz in der vergangenen Woche hat sich die Lage in Kiew und anderen großen Städten drastisch verschlechtert. Der staatliche ukrainische Netzbetreiber Ukrenerho meldet Probleme für 40 Prozent der Bevölkerung und Schäden an mindestens 15 wichtigen Verteilzentren. Tausende Kilometer wichtiger Hochspannungsleitungen seien außer Funktion.
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Präsident Wolodymyr Selenskyj hat versichert, es werde Tag und Nacht an der Wiederherstellung der Netze und der Versorgung gearbeitet. Dennoch drücken die Aussichten auf die bitterkalte Jahreszeit.
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© Quelle: Reuters
Bild einer zerstörten Umspannstation
Die Stromausfälle könnten Stunden bis Tage dauern, warnte Ukrenerho und veröffentlichte das Bild einer zerstörten Umspannstation. Dutzende solcher Anlagen und Installationen seien betroffen, hieß es, und diese könnten nicht schnell ersetzt werden. In diesem Winter seien „Widerstandskraft und Mut“ nötig.
Auch der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko stimmt die Menschen auf einen harten Winter ein. „Worst-Case-Szenario – eigentlich möchte ich gar nicht davon sprechen, aber ich muss vorbereitet sein, wenn wir keinen Strom haben, bei Stromausfällen, ohne Wasser, ohne Heizung, ohne Versorgung und ohne Kommunikation“, sagt er im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AP.
Starker Temperatureinbruch und der erste Schnee
Ein starker Temperatureinbruch und der erste Schnee haben die Lage in Kiew weiter verschärft. Die Kälte zwingt die Menschen dazu, ihre Heizungen einzuschalten, was das Stromnetz noch weit stärker belastet und den Mangel verstärkt. Mit Blick auf die Minusgrade hat die Stadt inzwischen Wärmestellen für die Bevölkerung angekündigt. 528 Notheizungen sollen für die Drei-Millionen-Stadt eingerichtet werden. Hier könnten sich die Menschen aufwärmen, Tee trinken, Telefone aufladen und weitere Hilfen einholen, heißt es.
Wir haben uns vorbereitet und unsere Partner um Stromgeneratoren gebeten, die sie uns schicken.
Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko
„Wir haben uns vorbereitet und unsere Partner um Stromgeneratoren gebeten, die sie uns schicken“, sagt Bürgermeister Klitschko. „Für diesen Fall haben wir einen Vorrat an Diesel und Öl.“ Viele Einwohner der ukrainischen Hauptstadt haben unterdessen damit begonnen, Kisten mit Lebensmitteln, Taschenlampen und Powerbanks in den Aufzügen der Hochhäuser zu deponieren – für den Fall, dass sie bei einem Stromausfall im Aufzug gefangen sind.
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© Quelle: dpa
Meisten Krankenhäuser in Kiew können Stromausfälle verkraften
Die meisten Krankenhäuser in Kiew können die Stromausfälle derzeit dank Generatoren verkraften. Auch Bildungseinrichtungen und soziale Dienste haben Generatoren erhalten. „Solche Einrichtungen haben für uns Vorrang“, erklärt Ukrenerho-Chef Wolodymyr Kudryzkyj.
Dennoch melden Schulen Strommangel, Internetausfälle und noch stärker eingeschränkten Unterricht. Vor allem für die Schülerinnen und Schüler, die nach Angriffen auf ihre Schulen zuletzt nur noch online den Unterricht verfolgen konnten, ist das ein weiterer Rückschlag. „Die meisten Kinder haben aus der Ferne gelernt, aber jetzt ist das nicht mehr möglich“, beklagt eine Mutter im Kiewer Stadtteil Wynohradar.
Kleinere medizinische Einrichtungen können teilweise nicht arbeiten
Auch kleinere medizinische Einrichtungen und Praxen können nur zeitweise oder gar nicht arbeiten. Er sei gezwungen, die Termine seiner Patienten auf unbestimmte Zeit zu verschieben, sagt etwa der Zahnarzt Viktor Turakewitsch. „Wir können nicht einmal Patienten mit akuten Zahnschmerzen annehmen.“ Einen Generator erwartet er erst in einigen Wochen.
Die Russen können auf dem Schlachtfeld nicht gewinnen und setzen daher Kälte und Dunkelheit als Waffe gegen die Zivilbevölkerung ein, um Panik und Depression zu schüren und die Ukrainer zu demoralisieren.
Wolodymyr Fesenko vom Politikforschungszentrum Penta in Kiew
„Die Russen können auf dem Schlachtfeld nicht gewinnen und setzen daher Kälte und Dunkelheit als Waffe gegen die Zivilbevölkerung ein, um Panik und Depression zu schüren und die Ukrainer zu demoralisieren“, resümiert Wolodymyr Fesenko vom Politikforschungszentrum Penta in Kiew. Der russische Präsident Wladimir Putin erleide militärische Niederlagen und brauche eine militärische Pause, meint Fesenko. Deshalb wolle er die Ukraine derart zu Verhandlungen zwingen.
Auch auf den Westen solle der Druck erhöht werden, ist Fesenko überzeugt. Denn der müsse seine Hilfe für das frierende Kiew ausweiten. „Putin versucht, den Preis für die Unterstützung der Ukraine als zu hoch anzusetzen“, erklärt der Experte, „das gilt sowohl für Geld als auch für eine mögliche neue Fluchtbewegung nach Europa aus einem frierenden Land.“
RND/AP