Planung im Verborgenen

Lehren der Geschichte: Warum Historiker an einer russischen Invasion zweifeln

Das Foto stammt aus einem Video des russischen Verteidigungsministeriums, das russische Truppen nach Ende der Militärübungen beim Abzug zeigen soll.

Das Foto stammt aus einem Video des russischen Verteidigungsministeriums, das russische Truppen nach Ende der Militärübungen beim Abzug zeigen soll.

Moskau. Ein bisschen Häme konnte er sich nicht verkneifen: „Wir haben in der Nacht friedlich geschlafen, wie es sich gehört“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Mittwoch. „Am Morgen haben wir uns ruhig und geschäftsmäßig an die Arbeit gemacht.“

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Peskow spielte damit auf den Alarm an, den die US-Geheimdienste am vergangenen Wochenende geschlagen hatten, als sie gemeint hatten, aus abgefangener Kommunikation im Kreml das genaue Datum eines Einmarsches Russlands in die Ukraine prognostizieren zu können. Doch der vorhergesagte 16. Februar kam und ging, allein zur russischen Invasion kam es weit und breit nicht. Nirgends.

Damit bewahrheitete sich vorerst, was die meisten Historiker vorher aufgrund der Erfahrungen aus der Vergangenheit in ähnlichen Situationen schon immer gesagt haben: Sollte der Kreml das Nachbarland tatsächlich überfallen, wäre die seit Wochen andauernde Demonstration der Macht mit dem gewaltigen Truppenaufmarsch von 130.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine keine sehr kluge Strategie.

Ukrainische Spielverderber

Denn sie verschaffte der Ukraine viel Raum und Zeit, sich auf den Ernstfall vorzubereiten. So gaben etwa in einer Umfrage des Ukrainian Institute for the Future 56 Prozent der Befragten an, ihr Land mit der Waffe in der Hand im Falle eines Überfalles verteidigen zu wollen. Sie trainieren dafür schon seit Wochen.

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Kiew bemüht sich außerdem um eine weitere Aufrüstung des Landes – und das mit Erfolg. Nato-Länder wie die USA und Großbritannien beliefern die Ukraine inzwischen verstärkt mit hochmodernen Waffensystemen wie Stinger- und Javelin-Flugabwehrraketen sowie NLAW-Panzerabwehrlenkwaffen, die der russischen Armee schwer zusetzen würden, sobald sie auf ukrainischem Territorium operierte: „Aus russischer Sicht sind das richtige Spielverderber“, sagt der Ukraine-Experte Rostyslaw Chotin von „Radio Free Europe“.

Es ist daher wenig erstaunlich, dass sich beim Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass Aggressoren oft bemüht waren, die Länder, die sie angreifen wollten, zu überrumpeln. Als etwa das faschistische Deutschland unter Diktator Adolf Hitler am 1. September 1939 in Polen einfiel, erwischte es Warschau auf dem falschen Fuß. Denn die polnische Führung hatte sich auf zahlreiche Sicherheitsgarantien verlassen, die seit Mitte der Dreißigerjahre ausgehandelt worden waren.

Im Januar 1934 vereinbarte sie mit Berlin etwa den sogenannten Pilsudski-Hitler-Pakt, ein gegenseitiges Nichtangriffsabkommen zwischen Deutschland und Polen, das für den deutschen Diktator damals als großer diplomatischer Erfolg galt. Er kündigte den Pakt, als 1939 die „britisch-französische Garantieerklärung“ abgegeben wurde, die für Polen noch wertvoller war: Sie sicherte den Beistand der Armeen Großbritanniens und Frankreichs an der Westflanke des Deutschen Reiches zu, sollte Polen zur militärischen Verteidigung seiner territorialen Unversehrtheit gezwungen werden.

Hitler hatte den Überraschungseffekt auf seiner Seite

Durch den Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939, einen Freundschaftsvertrag zwischen Deutschland und der Sowjetunion, wurde Beobachtern zwar endgültig klar, dass Polen nach der Annexion Österreichs und Tschechiens durch Deutschland sehr wahrscheinlich das nächste Opfer von Hitlers Hegemonialstreben sein könnte. Denn das Dritte Reich war nun in der Lage, sich bei einem Überfall Polens den Rücken freizuhalten, weil es die Sowjetunion nicht mehr als Gegner fürchten musste.

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Hitler hatte dennoch den Überraschungseffekt auf seiner Seite, denn er lavierte nicht monatelang hin und her, wie es die Russen jetzt tun, sondern handelte sehr schnell: Nur eine Woche nach Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes marschierte Nazi-Deutschland in Polen ein. Nach drei Wochen hatte die Wehrmacht jene Teile des Landes überrannt, die es besetzen wollte. Warschau hatte sich verkalkuliert.

„Denn das Selbstvertrauen der polnischen Regierung hatte sich aus der Zeit davor gespeist“, erklärt Arnd Bauerkämper von der Freien Universität Berlin. „Sie vertraute auf die britisch-französische Garantieerklärung, die aber nicht eingelöst wurde. Frankreich und Großbritannien traten zwar in den Krieg ein, erhoben aber wegen Polen vorerst nicht die Waffen gegen Deutschland, wie es eigentlich vereinbart war“, erklärt der Historiker.

Der jetzige Aufmarsch an der ukrainischen Grenze, der in seiner Augenfälligkeit in einem klaren Gegensatz zum russischen Vorgehen im Jahr 2014 stehe, merkt Bauerkämper an, als die beiden abtrünnigen ostukrainischen Provinzen Lugansk und Donezk vom Kreml immer nur im Geheimen unterstützt und die Krim von russischen Soldaten ohne Hoheitsabzeichen eingenommen wurde (inzwischen bekannt als die sogenannten „grünen Männchen“), mache ihm daher gewisse Hoffnungen. „Denn so ein vorbereiteter Angriff lässt Zeit für Gegenmaßnahmen. Eine effektive Kriegsführung würde sicher schneller gelingen, wenn man subversiv eindringen würde wie 2014″, argumentiert Bauerkämper.

Der Wille, als Großmacht anerkannt zu werden

Dass das so ist, musste Josef Stalin im finnisch-sowjetischen Krieg 1939/1940 lernen. Der sowjetische Diktator hatte von Finnland Gebietsabtretungen gefordert und seine Ansprüche dadurch untermauert, dass er Mitte September 1939 begann, Einheiten der Roten Armee an der finnischen Grenze zusammenzuziehen. Nachdem Verhandlungen in Helsinki und Moskau keine Übereinkunft bei dieser Frage erbrachten, marschierte Russland Ende November 1939 in Finnland ein.

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Der Angriff wurde allerdings von der zahlen- sowie ausrüstungsmäßig erheblich unterlegenen finnischen Armee bei hohen Verlusten der russischen Streitkräfte zunächst gestoppt. Finnland hatte aufgrund des monatelangen Aufmarsches der Russen an seiner Grenze eben genug Zeit zur Vorbereitung. Und es spricht wenig dagegen, dass die Ukraine nun auch ein unangenehmer Gegner für die Russen wäre.

Bauerkämper weist auf einen weiteren Punkt hin: „Eine Drohkulisse lässt sich auch nicht dauerhaft durchhalten“, merkt er an. „Militärexperten wissen, dass man 130.000 Leute nicht einfach so stehen lassen kann. Da setzt dann schnell eine Demoralisierung ein. Irgendwann werden die Militärs sagen, wir müssen jetzt entweder marschieren oder uns wieder zurückziehen. Ersteres bedeutet natürlich auch eine gewisse Gefahr, dass man die Flucht nach vorne ergreift.“

Er vermute aber eher, sagt Bauerkämper, dass Putin das Bedrohungsszenario dafür nutzen wolle, den russischen Nationalismus hinter sich zu einen, denn er habe ja schon ohne großen Krieg Erfolge erzielt wie etwa das Angebot der USA, über ein künftiges Verbot von Kurz- und Mittelstreckenraketen zu verhandeln – eine völlige Abkehr von der Kündigung des INF-Vertrages durch Donald Trump im Jahr 2019.

„Auch 38/39 waren die Deutschen begeistert von Hitlers außenpolitischen Erfolgen“, verdeutlicht der Historiker. „Erst als die Kriegsgefahr real wurde, kippte die Stimmung, und in Russland wäre das ähnlich, das liest man in der russischen Presse ja schon jetzt in vielen Kommentaren.“ Und nach außen demonstriere Putin Machtanspruch und den Willen, anerkannt zu werden, und zwar als Großmacht.

Möglichst großes Verhandlungspaket erleichtert Kompromisslösung

Jörn Leonhard von der Universität Freiburg tendiert trotz allem Alarmismus ebenfalls dazu, die Kriegsgefahr im Augenblick nicht überzubewerten. Russlands Drohgebärde habe aus Putins Sicht eher den Zweck, mit westlichen Führern an höchster Stelle ins Gespräch zu kommen und so den Beweis der Anerkennung Russlands auf Augenhöhe zu führen, als tatsächlich ins Nachbarland einzumarschieren.

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„Das gelingt ihm im Augenblick sehr erfolgreich“, sagte der Historiker dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Derzeit geben sich westliche Staats- und Regierungschefs im Kreml die Klinke in die Hand. Und das ist positiv zu bewerten, denn es gibt viele historische Beispiele dafür, dass es immer dann gefährlich wurde, wenn die Kommunikation auf hoher politischer Ebene abbricht und damit Militärs größere Handlungsspielräume erhalten – so wie etwa im Sommer 1914.“

Allerdings schränkt Leonhard seinen Optimismus ein: „Das so zu sagen bleibt mit einiger Unsicherheit behaftet, denn über die letzten Motive Putins kann niemand ganz sicher sein.“ Putin habe in letzter Zeit immer wieder an die historische Rolle Russlands und der Sowjetunion als imperiale Macht erinnert und sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er sich eine andere Ordnung Europas vorstellt, in der Russland eine wichtigere Rolle einnehmen solle als jetzt. Und er habe wiederholt der Ukraine das Recht abgestritten, ein eigener Staat zu sein, der unabhängig von Russland ist.

Aus eigenem Interesse sollte Putin von solchen Maximalpositionen abrücken, denn wenn er realistisch bleibt, kann er aus der jetzigen Situation wohl durchaus etwas für die Interessen seines Landes herausholen. Kommt es zu konstruktiven Verhandlungen, wird es wie in anderen internationalen Krisen entscheidend sein, ob sie allen Seiten eine gesichtswahrende Lösung ermöglichen.

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„Historisch gesehen gelingt das tendenziell eher, wenn man ein möglichst großes Verhandlungspaket schnürt“, sagt Leonhard. Denn was der Kreml jetzt fordert, wie etwa die verbindliche Zusage, dass die Ukraine und andere ehemalige Sowjetrepubliken niemals in die Nato aufgenommen werden, oder dass die Nato ihre Truppen auf die Positionen von 1997 zurückziehen solle, ist für den Westen nicht verhandelbar.

Doch vielleicht finden sich an anderer Stelle Punkte, dem russischen Sicherheitsbedürfnis entgegenzukommen. Denkbar wäre etwa die Abschaffung der Raketenabwehrsysteme in Rumänien und Polen, die Russland schon lange ein Dorn im Auge sind, oder die Schaffung von größerer Transparenz durch gegenseitige Inspektionen der Waffensysteme der jeweils anderen Seite.

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