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Interview zu Linken-Vorschlag

„Enormer Beitrag für soziale Ungerechtigkeit“: Bildungsforscher über Hausaufgaben

Ein achtjähriges Mädchen sitzt in seinem Kinderzimmer und lernt mit seinem Arbeitsheft Französisch, aufgenommen am 10.4.2012 in Berlin.

Ein achtjähriges Mädchen sitzt in seinem Kinderzimmer und lernt mit seinem Arbeitsheft Französisch, aufgenommen am 10.4.2012 in Berlin.

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Jöran Muuß-Merholz ist Diplompädagoge und Leiter eines Think-and-do-Tanks, der Transformationen im Bildungsbereich begleitet und moderiert. Er ist Autor mehrerer Bücher zum Thema Lernen und Lehren im digitalen Wandel und gibt Workshops vor allem im deutschsprachigen Raum, aber auch weltweit.

Herr Muuß-Merholz, die Linke möchte Noten und Hausaufgaben abschaffen, um damit aus ihrer Sicht „Lernen ohne Druck und Angst“ zu ermöglichen. Ergibt das aus bildungswissenschaftlicher Sicht Sinn?

Jenseits der politischen Forderung kann man mit Blick auf das Lernen sagen: Ja, es ergibt Sinn, Noten und Hausaufgaben infrage zu stellen, wenn man das Lernen fördern und Angst mindern möchte. Wir wissen aus der Forschung, dass wir mit Angst sehr gut lernen – nur in der Regel nicht immer das, worauf es ankommt. Um es bildlich zu machen: Wir lernen über Angst, die Finger von der heißen Herdplatte zu lassen. Aber wir lernen nicht, wie man kocht. Dazu besteht die Gefahr, dass wir die Angst „mitlernen“ – also immer, wenn es in der Zukunft um Kochen geht, verbinden wir es mit Angst. Immer wenn es in der Zukunft um Lernen geht, verbinden wir es mit der Angst. Das kann ein funktionierendes Bildungssystem nicht wollen.

Wir lernen über Angst, die Finger von der heißen Herdplatte zu lassen. Aber wir lernen nicht, wie man kocht.

Jöran Muuß-Merholz,

Bildungsexperte

Bleiben wir bei den Hausaufgaben: Sind sie nicht wichtiger Bestandteil im Lernprozess, um das Gelernte einzuüben und das selbstständige Lernen zu fördern?

Nein. Richtig ist: Selbstständiges Lernen und Üben sind wichtig, damit wir Routinen ausbilden und das selbstständige Arbeiten weiterentwickeln. Aber das ist kein Selbstgänger. Nur weil ich die Aufgabe bekomme, selbstständig zu lernen, werde ich darin nicht automatisch besser. Entscheidend ist, wie gut ich dabei unterstützt werde. Was ich für Motivation und Feedback erhalte. Und hier sind Hausaufgaben ein enormer Beitrag für soziale Ungerechtigkeit. Beim Lernen geht die Schere weiter auf, abhängig davon, wie gut die Unterstützung dabei ist. Wenn ich für die Hausaufgaben ein gutes Umfeld und Unterstützung bekomme, kann ich richtig stark profitieren. Wenn ich dagegen nicht mal einen guten Arbeitsplatz für den Nachmittag, keine Ruhe und keine Unterstützung finde, falle ich weiter zurück. Also: Auf jeden Fall sollten wir das selbstständige Lernen fördern. Aber wenn wir das auf den privaten Bereich schieben und nicht in der Schule selbst organisieren, dann hilft das nur denjenigen, die ohnehin schon privilegiert sind.

Wenn ich für die Hausaufgaben ein gutes Umfeld und Unterstützung bekomme, kann ich richtig stark profitieren. Wenn ich dagegen nicht mal einen guten Arbeitsplatz für den Nachmittag, keine Ruhe und keine Unterstützung finde, falle ich weiter zurück.

Jöran Muuß-Merholz,

Bildungsexperte

Collage Bildungssystem

Setzen, Sechs: Warum der Widerstand gegen das Notensystem in den Schulen wächst

Wenn das Lernen zur Qual wird, dann sollte sich etwas ändern – tut es aber nicht. Noten- und Leistungsdruck setzen vielen Schülerinnen und Schülern massiv zu. Aussagekräftig sind Ziffernzeugnisse auch nur bedingt, sagen Expertinnen und Experten. Trotzdem wird an der altbewährten Leistungsbeurteilung festgehalten. Warum nur?

Hausaufgaben helfen aber auch, Bindungen innerhalb der Familie zu stärken, oder?

Das bezweifle ich. Auch in Familien, in denen es gute Bedingungen für Hausaufgaben gibt, tragen Hausaufgaben selten zu mehr Freude und Harmonie innerhalb der Familien bei. Persönlich kann ich sagen: Meine Kinder waren fast nur in Schulen, in denen der Großteil des Lernens innerhalb der Schule stattfand – dafür bis in den Nachmittag. Das war fürs Familienklima ein echter Segen.

Der Diplompädagoge Jöran Muuß-Merholz.

Der Diplompädagoge Jöran Muuß-Merholz.

Zu den Noten: Kritiker sagen, wenn Schülerinnen und Schüler keine Noten haben, fehlt ihnen ein Gradmesser über ihren Wissensstand. Haben sie damit nicht einen Punkt?

Wenn die Note der einzige oder der wichtigste Gradmesser ist, dann kann man beim Lernen damit ziemlich wenig anfangen. Was heißt denn „befriedigend“, wenn ich das als Wasserstandsmeldung bekomme? Was genau könnte besser werden? Was kann ich anders machen? Woran sollte ich arbeiten? Und wie kann ich dabei vorgehen? Also: Feedback ist extrem wichtig. Aber Noten sind wirklich die dünnsten anzunehmenden Rückmeldungen. Zudem haben wir inzwischen wirklich eine sehr solide Studienlage, nach der Noten ungerecht, willkürlich und nicht lernförderlich sind.

Ein Vorwurf der Linken: Unser dreiteiliges Schulsystem würde bestehende Ungleichheiten verstärken. Ist das so?

Ja, das stimmt. Aber ich sehe realpolitisch keine Chance für große Veränderungen in Deutschland. Deswegen sehe ich gerade keinen Vorteil, in dieser Diskussion Energie zu verschwenden, die anderswo dringender gebraucht werden könnte.

In jedem Bundesland gibt es einen anderen Lehrplan, andere Fächer, Unterschiede bei der Gestaltung der Abschlussprüfungen. Doch gleichzeitig ist die Sozialstruktur in Berlin sicher auch eine andere als zum Beispiel in Baden-Württemberg. Macht eine Vereinheitlichung des Schulsystems, wie es die Linke fordert, aus Ihrer Sicht Sinn?

Der Ruf nach Vereinheitlichung ist sehr beliebt. Aber das ist ein Pseudokonsens.

Jöran Muuß-Merholz,

Bildungsexperte

Der Ruf nach Vereinheitlichung ist sehr beliebt. Aber das ist ein Pseudokonsens. Denn den Rufenden geht es nur selten wirklich um die Vereinheitlichung selbst. Sie wollen Vereinheitlichung auf den Standard, den sie selbst für richtig halten. Die Linken wären vermutlich nicht glücklich, wenn wir einfach das bayerische System für alle vereinheitlicht anwenden.

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Abschließend: Ist unser Schulsystem noch zeitgemäß?

Tatsächlich ist die DNA der Schule noch davon geprägt, wie wir sie vor gut 200 Jahren erfunden haben: eine Institution, die auf Stabilität ausgerichtet ist. Heute muss Schule sich selbst weiterentwickeln und neu erfinden, während sich gleichzeitig die Welt um sie herum schnell und massiv verändert. In diesem Wandel stecken wir mittendrin. Das Alte funktioniert nicht mehr, aber das Neue ist gerade erst im Entstehen.

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