Lüge als Prinzip: Warum man Putin nichts glauben kann
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Was ist wahr, was unwahr? Täuschung, Desinformation und Verwirrung sind ein uraltes Prinzip in Russlands Militär, Geheimdienst und Staatsführung. Präsident Putin am 31. März bei einer Videorunde mit russischen Wirtschaftsführern.
© Quelle: IMAGO/SNA
Moskaus stellvertretender Verteidigungsminister stimmte verblüffend milde Töne an. Russland, sagte Alexander Fomin vor der Weltpresse in Istanbul, werde jetzt alle militärischen Aktivitäten rund um Kiew und Tschernihiw im Norden der Ukraine stark zurückfahren. Dies sei „eine Maßnahme, um vor weiteren Friedensgesprächen Vertrauen wachsen zu lassen“.
Frieden? Vertrauen?
Im hyperaktiven Westen stiegen sofort die Börsenkurse. Politiker äußerten Hoffnungen, der Ölpreis gab nach.
Kiew aber erzitterte schon in der folgenden Nacht unter Detonationen wie selten zuvor. Und Tschernihiw erlebte laut Bürgermeister Wjatscheslaw Tschaus sogar eine „kolossale Attacke“ mit Bombern und Artillerie gleichzeitig. Immerhin hatten die Ukrainer von den Russen nichts Besseres erwartet. „So sieht es für uns aus, wenn sie sagen, sie ziehen ihre Truppen zurück“, ätzte die ukrainische Parlamentsabgeordnete Kira Rudik.
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Am Freitag, als die ukrainische Zivilbevölkerung schon nicht mehr daran glauben mochte, gab es dann doch einen spürbaren Rückzug der Russen aus diversen Regionen im Norden. Offenbar ist eine Umgruppierung der russischen Soldaten in der Ukraine geplant, diesmal in Richtung Donbass.
Russische Offiziere teilten mit, Kiew sei ohnehin nie das Ziel gewesen. Warum aber hatten sie, wenn gar kein Machtwechsel geplant war, wochenlang Gefangenenbusse vor den Toren der Stadt bereitgehalten? Und wozu nahmen sie in ihren Fahrzeugen die Paradeuniformen Richtung Kiew mit – statt an besseren Proviant zu denken?
In Deutschland freute man sich über einen angeblichen Teilabzug russischer Truppen zuletzt am 15. Februar. Damals ging es um die noch vor den Grenzen der Ukraine stehenden Soldaten. Kanzler Olaf Scholz hatte gerade einen Termin bei Staatschef Wladimir Putin im Kreml, und Moskau erlaubte sich einen kleinen Griff in die PR-Trickkiste. Prompt lobte SPD-Chefin Saskia Esken damals das vermeintlich von Scholz Erreichte.
„Wir wurden eiskalt angelogen“
Außenministerin Annalena Baerbock stellte später klar: „Wir wurden eiskalt angelogen.“ Tatsächlich entpuppte sich der gesamte Reigen von Gesprächen, die der Kreml noch mit westlichen Regierungen führte, als ein einziges großes Täuschungsmanöver. Doch dieser Blick zurück hilft nicht viel weiter. Aktuell lautet die bange Frage: Wie aber verhütet man heute eine Rückkehr der damaligen Naivität?
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Der Westen muss sich erstens einlassen auf den ebenso ungewohnten wie ungemütlichen Gedanken, dass er es mit einem Feind zu tun hat, also mit jemandem, der ihm allen Ernstes schaden will, auch und gerade in Dialogsituationen.
Zweitens ist mehr Respekt angebracht vor Moskauer Traditionen. Maskirowka – Täuschung, Desinformation, Verwirrung – ist ein uraltes Prinzip in Russlands Militär, Geheimdienst und Staatsführung. Die Frage des Umgangs mit der Wahrheit führt zwischen Moskau und dem Westen zunehmend zu einem „clash of civilizations“, einem Kampf unterschiedlicher Kulturen.
Die Lüge als Zeichen der Stärke
Fliegt im Westen die Lüge eines Politikers auf, ist es peinlich, ein Skandal. Medien schreiben Enthüllungsberichte, Untersuchungsausschüsse werden eingesetzt.
In Russland dagegen betrachtet der Staatschef die Lüge als Zeichen seiner Stärke. Im Jahr 2014, bei der Annexion der Krim, stritt Putin die Präsenz russischer Soldaten immer wieder vehement ab. Später, als ihm die Zeit reif erschien, gefiel es ihm jedoch, den an der Annexion beteiligten russischen Soldaten Orden zu verleihen, eigenhändig und vor der Weltöffentlichkeit.
Anfangs hatte die Lüge seiner Machtausdehnung gedient, nun streifte Putin sie ab wie einen schmutzigen Handschuh: Alles hat seine Zeit.
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Meister der Maskirowka: Russlands Außenminister Sergej Lawrow, hier auf einem Foto vom 23. März.
© Quelle: IMAGO/ITAR-TASS
Dass der Westen dies alles registrierte, war Putin egal. Er ist längst zwei Umdrehungen weiter. Wer so denkt wie er, dem erscheint die traditionelle Orientierung vieler Menschen an Wahrhaftigkeit und Redlichkeit als lächerlich: eine überkommene Attitüde, mit der endlich mal aufgeräumt werden muss.
Wahre Macht hat in Putins neuer Welt, wer als Herrscher das Faktische übersteigt, wer Gesetze, Regeln oder Verträge zu brechen vermag. Mal sagt Putin, er werde dem Westen Erdgas liefern, mal droht er, den Hahn zuzudrehen. Das einzige durchgängig geltende Prinzip liegt darin, dass seine Gegner ihn fürchten sollen, so oder so.
Kriegsverbrechen plus diplomatische Show
In der Ukraine wird Putin natürlich jede Umgruppierung seiner Truppen als Teilabzug verkaufen. Doch niemand darf sich wundern, wenn schon bald noch wuchtigere Angriffe folgen.
Schon in Syrien stöhnten Hilfsorganisationen immer wieder über Russlands zynischen Mix aus Kriegsverbrechen und diplomatischer Show. Auch wenn gerade Fassbomben geworfen und sogar Chemiewaffen eingesetzt wurden: Stets strich sich Außenminister Lawrow schon den Schlips glatt fürs nächste gepflegte Friedensgespräch, mal in Genf, mal in Wien, mal in New York.
Russlands Krieg: Ukraine bereitet sich auf russische Offensive im Osten vor
Die Ukraine bereite sich nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj auf einen massiven russischen Angriff im Osten des Landes vor.
© Quelle: Reuters
Vor den Vereinten Nationen ließ Lawrow jüngst das Argument ausbreiten, Russland habe sich in der Ukraine lediglich wehren wollen gegen eine von dort aus mehr als 20 Biowaffenlabors drohende Gefahr: Dort sei ein Erreger gezüchtet worden, der sich speziell gegen Russen wende. In Antalya, vor Diplomaten und Journalisten aus aller Welt, steigerte sich Lawrow sogar zu der orwellianischen Feststellung, Russland habe die Ukraine gar nicht angegriffen.
Längst hat auch Lawrow sich einen Orden von Putin verdient: als Meister der Maskirowka.