„Meine Mutter sagte: Pass auf dich auf“ – SPD-Vize Serpil Midyatli über die Angst nach Hanau
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Serpil Midyatli (SPD) spricht während eines Interviews. Die 45-Jährige ist seit Dezember 2019 SPD-Landesvorsitzende von Schleswig-Holstein sowie stellvertretende Bundesvorsitzende ihrer Partei.
© Quelle: picture alliance/dpa
Berlin. Frau Midyatli, vor einem Jahr erschoss ein rechtsextremer Attentäter in Hanau neun Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sowie seine Mutter und sich selbst. Was haben Sie gedacht, als sie zum ersten Mal von der Tat gehört haben?
Ich war geschockt. Verwandte von mir leben in Hanau, ich habe deshalb zuerst meine Eltern angerufen und gefragt, ob es unseren Angehörigen gut geht. Zum Glück war das so. Der kurzen Erleichterung folgte ein tiefer Schmerz, als die Dimension der Tat deutlich wurde. Wir reden über neun unschuldige Menschen, die aus dem Nichts heraus getötet worden sind, nur weil Rechtsextreme meinen, sie gehören hier nicht her. Das hat mich tief getroffen – auch ganz persönlich.
Weil Sie als Tochter türkischer Einwanderer mit denselben Vorurteilen konfrontiert sind?
Ja. Das Risiko, Opfer eines Terroranschlags zu werden, ist für Menschen, die aussehen oder heißen wie ich, größer. Das ist so.
Nehmen Sie in der migrantischen Community mehr Angst wahr?
Angst vor Nazis gibt es seit den Brandanschlägen von Solingen und Mölln oder den Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen in den 1990er-Jahren. In jener Zeit ist ein Onkel von mir auf dem Nachhauseweg von Neonazis überfallen und zusammengeschlagen worden – einfach nur, weil er aussah, wie er aussah. Dann kam die NSU-Mordserie. Die Gefahr durch rechte Gewalttäter ist uns allen sehr bewusst, und eine Tat wie die von Hanau zeigt, wie real sie ist. Meine Mutter sagte nach Hanau zu mir den Satz: „Pass auf dich auf“. In den Tagen danach habe ich immer wieder den türkischen Ausspruch „Korkuyorum“ gehört – „Ich habe Angst.“ Ich glaube, das beschreibt die Gefühlslage der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte ganz gut.
Wäre die Betroffenheit der Mehrheitsgesellschaft eine andere, wenn die Opfer nicht Gültekin, Kurtović und Saraçoğlu geheißen hätten, sondern Krause, Müller oder Schulze und das Attentat nicht in Bar, Shishalounge und Kiosk stattgefunden hätte, sondern in einem katholischen Jugendzentrum?
Vermutlich ist das so. Menschen identifizieren sich am ehesten mit Menschen, die ihnen ähnlich sind, und das will ich niemandem vorwerfen. Wichtig ist aber, dass die Mehrheitsgesellschaft ihre Lehren aus Terroranschlägen wie dem von Hanau oder der Mordserie des NSU zieht. Das fängt schon damit an, dass man bei Opfern mit ausländischen Namen nicht als Erstes an eine Milieutat denkt, sondern sich eingesteht, dass dieses Land ein echtes Problem mit Rassismus und rechtem Terror hat.
Hat die Politik angemessen reagiert?
In der Folge von Hanau wurde ein Kabinettsausschuss für den Kampf gegen Rechtsextremismus gegründet. Das war ein starkes Zeichen, weil damit klar geworden ist, dass auch die Bundesregierung Rassismus als ernstes Problem anerkennt und sich gegen Gewalt, Hass und Hetze stellt. Weitere Schritte müssen folgen, etwa der entschiedene Kampf gegen den Alltagsrassismus. Ich habe seit meiner frühesten Kindheit immer wieder Menschen getroffen, die der Meinung waren, ich sei kein Teil dieser Gesellschaft. So etwas prägt – ob man will oder nicht.
Gegen Rassismus im Alltag wird man nicht mit Gesetzen vorgehen können.
Nein, da sind alle gefragt. Schaue ich Menschen, die nicht deutsch aussehen, anders an? Benachteilige ich sie bei der Suche nach Jobs, Wohnungen, wo auch immer? Dagegen kann jede und jeder Einzelne etwas tun. Auch Menschen mit Einwanderungsgeschichte wollen gut und sicher in diesem Land leben. Wir sind nicht die anderen, wir sind Teil dieser Gesellschaft. Wir sind Mütter, Väter, Töchter, Söhne, die hier leben und die hier arbeiten. Wir sind Deutsche – genauso wie alle, deren Familien seit Generationen in diesem Land leben.
Von den Angehörigen der Opfer hört mal viel Bitterkeit und Kritik. Wurden bei der Aufarbeitung der Tat Fehler gemacht?
Wenn man einen oder mehrere nahestehende Menschen auf so grausame Weise verliert, ist das ein einschneidendes Erlebnis. Wir gedenken der Opfer am 19. Februar, den Angehörigen aber fehlen ihre Söhne, Töchter und Geschwister jeden einzelnen Tag. Die Fragen der Hinterbliebenen sind berechtigt. Sie wollen wissen, wie die Abläufe waren, welche Versäumnisse es gab, warum Notrufe in der Nacht nicht eingegangen sind. Sie haben das Recht darauf, das zu erfahren. Alle Fragen der Angehörigen müssen beantwortet werden.
Sie selbst haben der AfD eine Mitschuld an dem Terroranschlag gegeben. Bleiben Sie dabei?
Absolut, da rücke ich kein Stück von ab. Auf Hass und Hetze in Interviews oder Reden folgen gewaltsame Taten. Die AfD trägt eine Mitschuld am Anschlag von Hanau. Da kann sie sich nicht rausreden.