Nach Abzug der russischen Besatzer: keine Normalität in Cherson
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Eine Frau geht in Cherson an einem kürzlich durch einen Angriff beschädigten Gebäude vorbei. Unter dem Druck ukrainischer Angriffe hatten russische Truppen Cherson und ihren Brückenkopf auf dem nordwestlichen Ufer des Dnipro Mitte November geräumt. Die Russen halten aber Stellungen auf dem anderen Ufer des Flusses und setzen von dort ihre Artillerie ein.
© Quelle: Bernat Armangue/AP/dpa
Cherson. Ein Straßenschild weist Autofahrer geradewegs in ein Minenfeld, in Haushaltsgeräten lauern Handgranaten. Eine Polizeistation ist so mit Sprengfallen gespickt, dass Ermittler dort keine Beweise für mögliche Menschenrechtsverstöße suchen können: Willkommen in Cherson einen Monat nach dem Abzug der Russen. Die Ukrainer haben ihn groß gefeiert, doch das Leben in der Stadt am Dnipro ist alles andere als normal.
Die nach acht Monaten vertriebenen Besatzer haben alle möglichen hässlichen Überraschungen hinterlassen. Ihre Geschütze beschießen die Stadt vom anderen Flussufer aus. Nach Angaben der Stadtverwaltung vom Samstag wurden dabei seit dem Abzug 41 Menschen getötet, darunter ein Kind. 96 Verletzte kamen ins Krankenhaus.
Elektrischen Strom gibt es nur zeitweise. Immerhin haben die meisten Häuser wieder fließend Wasser. Sogar die Beheizung wurde kürzlich wiederhergestellt, allerdings nur in 70 bis 80 Prozent der Stadt. Bei ihrer Flucht hatten die Russen ein großes Heizwerk in die Luft gejagt.
Leichen mit Folterspuren laut Innenministerium in Cherson entdeckt
Die Strafverfolgungsbehörden hätten insgesamt 436 Fälle von Kriegsverbrechen während der russischen Besatzung aufgedeckt.
© Quelle: Reuters
Bürger und Behörden sehen sich jeden Tag ungezählten Gefahren und Problemen gegenüber, die ihnen die Besatzer hinterlassen haben, und bereiten sich auf neue Überraschungen vor. Allein am Freitag hätten die Russen Cherson 68 Mal mit Granatwerfen, Geschützen, Panzern und Raketen beschossen, berichten örtliche Medien. Der Sender Suspilne meldet, im November hätten 5500 Einwohner mit Evakuierungszügen die Stadt verlassen.
Große Menschenansammlungen sind selten geworden
Als kurz nach dem Abzug der Russen Lastwagen mit Hilfsgütern kamen, strömten die kriegsmüden Einwohner auf dem zentralen Freiheitsplatz zusammen, um Nahrungsmittel zu erstehen. Doch Ende November traf ein russischer Angriff eine Menschenschlange vor einem Bankgebäude auf dem Platz. Seither sind große Menschenansammlungen seltener geworden. Hilfsgüter werden an unauffälligeren Stellen verteilt.
Örtliche Regierungsvertreter sagen, dass nach dem Einmarsch der Russen etwa 80 Prozent der einst etwa 320 000 Einwohner geflohen seien. Mit jetzt vielleicht noch 60 000 bis 70 000 Menschen wirkt Cherson wie eine Geisterstadt, zumal sich die verbliebenen Einwohner nur noch selten auf die Straße wagen.
„Das Leben normalisiert sich, aber es gibt viel Beschuss“, sagt die 56-jährige Walentyna Kytaiska, die in dem nahe gelegenen Dorf Tschornobaiwka lebt. Doch normal ist ein relativer Begriff für ein Land im Krieg. Behörden und Einwohner bemühen sich, so etwas wie Normalität zu schaffen. Sie beseitigen selbst in der Eiseskälte Trümmer und Minen.
„Die Schwierigkeiten sind ganz einfach, es sind die Wetterbedingungen“, sagt ein Mitglied des Entminungstrupps, der sich den Decknamen Technik zugelegt hat. Bei der Kälte funktionierten einige Geräte einfach nicht, „weil der Boden gefroren ist wie Beton“.Die Entsendung zusätzlicher Teams könnte die Arbeitslast erleichtern. Während eines Monats hätten er und sein Team auf nur zehn Quadratkilometern mehrere Tonnen Minen entdeckt und entfernt, sagt Technik.
Die demolierten Straßen halfen den Russen, ihre Sprengfallen zu tarnen. Schlaglöcher etwa bieten ein hervorragendes Versteck für Minen. Man braucht nur etwas Erde darauf zu schütten.
Im Bezirk Beryslawskyi wurde eine Hauptstraße mit einem Schild „Minen voraus“ gesperrt, die Passanten wurden auf eine kleinere Straße umgeleitet. Tatsächlich vermint war jedoch genau diese Nebenstraße, was einige Entminungshelfer des Militärs das Leben kostete. Einige Wochen später wurden dort auch vier Polizeibeamte getötet, darunter der Polizeichef von Tschernihiw, der nach Cherson gekommen war, um der Stadt wieder auf die Beine zu helfen.
Jedes einzelne Haus muss überprüft werden
Die Entminungstrupps gehen von Haus zu Haus, um sicherzustellen, dass die früheren Bewohner sicher zurückkehren können. Experten zufolge kann es bis zu drei Tage dauern, bis ein einziges Haus geräumt ist. In einem Haus entdeckte ein Team eine Handgranate in einer Waschmaschine. Der Stift war so platziert, dass das Öffnen des Waschmittelbehälters eine Explosion ausgelöst hätte.
Ukrainischer Präsident Selenskyj besucht zurückeroberte Stadt Cherson
Der ukrainische Präsident Selenskyj hat am Montag die von der russischen Besatzung befreite Stadt Cherson im Süden des Landes besucht.
© Quelle: Reuters
Das Hauptpolizeirevier der Stadt, in dem Berichten zufolge Häftlinge gefoltert wurden, ist voll mit Sprengstoff. Als die Entminungstrupps versuchten, in das Gebäude vorzudringen, explodierte ein Teil des Gebäudes. Also haben sie das Projekt erst einmal aufgegeben.
Auch langfristig bleiben Fragen: Cherson liegt inmitten einer landwirtschaftlich geprägten Region, in der Weizen, Tomaten und Wassermelonen angebaut werden. Die Felder sind so stark vermint, dass nach Einschätzung von Minenräumer Technik auf etwa 30 Prozent des urbaren Landes in dem Gebiet im Frühjahr nichts angebaut werden kann. Schon auf den ersten Blick sind die Spitzen von Panzerabwehrminen zu erkennen, die aus den Feldern ragen.
Doch selbst nach einer weiteren Nacht heftigen Beschusses sagt der in Cherson lebende Oleksandr Tschebotariow, das Leben unter den Russen sei für ihn, seine Frau und die dreijährige Tochter noch schlimmer gewesen. „Man kann jetzt leichter atmen“, sagt der 35-jährige Radiologe, fügt aber hinzu: „Wenn das Geknalle nicht vor Neujahr aufhört, fahre ich in den Urlaub.“
RND/AP