Nachricht zweier Pensionäre aus Kiew: „Macht euch um uns keine Sorgen!“
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Die Pensionäre Lena (r.) und Slawa in Kiew an ihrem 50. Hochzeitstag Anfang des Jahres 2022.
© Quelle: privat
Berlin. „Bei uns ist es ruhig und still, es gibt nur ein bisschen Frost“, schreibt Lena (73) am Montag Mittag über den Messengerdienst Viber aus dem Zentrum von Kiew. In der fünften Nacht der russischen Invasion in die Ukraine ist es in der Hauptstadt tatsächlich vergleichsweise ruhig geblieben. Vereinzelt gab es Scharmützel, die Explosionen und Schüsse ließen in der Nacht zum Montag offenbar nach.
Der Vormarsch des russischen Militärs schien sich angesichts des heftigen Widerstands der Ukrainer zu verlangsamen. So als ob gar kein Krieg wäre, schrieb Lena schon am Sonntag: „Alles ist normal, danke. Macht euch um uns keine Sorgen.“
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Das Telefon funktioniert nicht, aber das Internet läuft, und so haben sie und ihr Mann Slawa Kontakt zur Außenwelt. „Viele Leute sind auf die umliegenden Dörfer geflüchtet und in die Westukraine“, berichtet die Seniorin, die vor ihrer Pensionierung als Kulturwissenschaftlerin gearbeitet hat.
Aber Lena und ihr Mann Slawa, der früher als Ingenieur gearbeitet hat, werden bleiben, das steht fest. Sie ist in Kiew geboren und aufgewachsen und hat dort später auch gearbeitet. Noch heute leben sie in der gleichen Wohnung, die sie einst mit ihrem Vater Mykola Djatlenko (1914–1996) teilten.
In dem ukrainischen Dorf Kulicha geboren, hatte er in Kiew Philologie studiert. Dann kam der Zweite Weltkrieg, und Djatlenko, der inzwischen fließend Deutsch sprach, wurde Dolmetscher an der Front. Sein berühmtester Einsatz: Er war als Parlamentär bei der Kesselübergabe von Stalingrad im Februar 1943 beteiligt, wo mehr als 300.000 deutsche Soldaten eingeschlossen waren.
Und der junge Hauptmann Djatlenko hat auch das anschließende Verhör von Generalfeldmarschall Friedrich Paulus durch die russischen Generäle Konstantin Rokossowski und Nikolai Woronow gedolmetscht. Die Gesprächssituation landete in der „Prawda“ auf dem Titel.
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Verhör im Hauptquartier der Don Front (v. l.): General Konstantin Rokossowski , Marschall Nikolai Woronow, Hauptmann Mykola Djatlenko und Generalfeldmarschall Friedrich Paulus.
© Quelle: Archiv/www.allworldwars.com
Nach dem Krieg arbeitete Djatlenko in Kiew als Publizist und Übersetzer und hat beispielsweise Erich Maria Remarques (1898–1970) weltbekannten Antikriegsbestseller „Im Westen nichts Neues“ vom Deutschen ins Ukrainische übertragen. Was würde Lenas Vater, der als Ukrainer ganz selbstverständlich in der Sowjetarmee gegen den deutschen Faschismus gekämpft hat, heute angesichts der russischen Aggression gegen seine Heimat sagen?
Lena möchte über so etwas nicht sprechen. Für die älteren Leute, die in der Sowjetunion groß geworden sind, ist das, was jetzt geschieht, noch viel unerklärlicher als für die Jungen.
Während am Sonntag und Montag die Kämpfe in und um Kiew andauerten, lobte Bürgermeister Vitali Klitschko die Moral seiner Bürgerinnen und Bürger. Das Stadtoberhaupt sorgte sich zugleich, wie lange sie durchhalten könnten. Männer wie Frauen, die Kiew verteidigen wollten, hätten sich Waffen an eigens eingerichteten Verteilstationen abgeholt, sagte er der Nachrichtenagentur AP.
Zugleich stehe die Stadt am Rande einer humanitären Katastrophe, berichtete der Bürgermeister. Es gebe zwar noch Strom, Wasser und Heizung in den Wohnungen, doch sei die Infrastruktur zerstört, was die Lieferung von Lebensmitteln und Medikamenten erschwere.
Scheinbar unbeeindruckt, gibt sich Lena optimistisch: „Slawa hat am Montag Geburtstag“, schreibt sie. Er wird 87. Und: „Es gibt gebackene Piroggen.“ Hinter das Wort Piroggen hat sie eine kleine pinkfarbene Torte gepostet.