„Wir müssen mehr machen“: Jens Stoltenberg ruft nach mehr Geld für die Nato-Verteidigung
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Jens Stoltenberg, Nato-Generalsekretär, spricht während der Vorstellung des Jahresberichts des Nato-Generalsekretärs für 2022 im Nato-Hauptquartier.
© Quelle: Virginia Mayo/AP
Brüssel. Es ist Krieg in Europa, und der für gewöhnlich so bedächtig auftretende Nato-Generalsekretär mahnt und fordert mit klaren Worten. „Wir müssen mehr machen, und wir müssen es schneller machen“, ruft Jens Stoltenberg am Dienstag in den Pressesaal des Nato-Hauptquartiers in Brüssel hinein. Die traditionelle Vorstellung des Nato-Jahresberichts gerät zu einem flammenden Appell an die 30 Mitgliedsstaaten des Militärbündnisses, jetzt nur nicht nachzulassen in den Bemühungen, der Ukraine in ihrem Kampf gegen die russischen Invasoren zu helfen. Denn es ist Krieg in Europa.
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Russland, Russland, Russland. Es gibt kein Thema in der Nato, das sich seit Februar vergangenen Jahres so nach vorne drängelt. Im Grunde genommen plagt sich der Norweger Stoltenberg seit seinem Amtsantritt im Oktober 2014 mit einem immer aggressiver werdenden Putin herum. Wenige Monate zuvor hatte der russische Präsident die Krim annektiert.
Auch die kommenden Jahre braucht es mehr Verteidigungsfähigkeit
Das war zwar ein Härtetest für die Nato. Die Mitgliedsstaaten begannen langsam, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Aber das war nichts gegen die Krise, die das westliche Militärbündnis seit Putins Invasion in die Ukraine am 24. Februar vergangenen Jahres durchmacht. 65 Milliarden Euro haben die Nato-Staaten bislang für die militärische Unterstützung der Ukraine zur Verfügung gestellt.
Und kein Ende in Sicht. „Selbst wenn der Krieg in der Ukraine morgen zu Ende ginge: Die kommenden Jahre werden sehr herausfordernd“, sagt Stoltenberg. Die europäische Sicherheitsarchitektur habe sich grundlegend verändert. Für Verteidigung müsse mehr Geld ausgegeben werden, fordert Stoltenberg.
Insgesamt haben die Nato-Staaten im vergangenen Jahr zwar etwa 1,1 Billionen Euro für die Verteidigung ausgegeben. Aber nur sieben der 30 Mitglieder erreichen das vereinbarte Ziel von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Deutschland liegt bei 1,5 Prozent, wobei die Rüstungsausgaben im Vergleich zu 2021 um 10 Prozent auf 57,7 Milliarden Euro gestiegen sind.
Nato-Staaten erhöhen Verteidigungsausgaben auf 1,2 Billionen Dollar
Die 30 Nato-Staaten haben im vergangenen Jahr nach jüngsten Schätzungen rund 1,2 Billionen US-Dollar (etwa 1,1 Billionen Euro) für Verteidigung ausgegeben.
© Quelle: dpa
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Die Nato ist nicht mehr hirntot
Der russische Angriffskrieg hat die Nato verändert. „Als die russischen Panzer in die Ukraine rollten, waren wir bereit“, sagt Stoltenberg. Das Bündnis zeigte Zähne. Mittlerweile sind so viele Soldaten an der Nato-Ostflanke im Einsatz wie nie zuvor seit dem Ende des Kalten Kriegs vor mehr als 30 Jahren.
Verteidigungsexperten loben die Reaktion der Allianz auf den völkerrechtswidrigen Angriff. Die Nato sei von den Scheintoten wieder auferstanden, sagt der Außenpolitiker der Europa-Grünen, Reinhard Bütikofer, im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND): „Wir wissen wieder: Die Nato ist der entscheidende Pfeiler transatlantischer Sicherheit.“
Das Bündnis besinne sich wieder auf seine Kernaufgabe, die Bündnisverteidigung, sagt auch der Sicherheitsexperte der Europäischen Volkspartei, Michael Gahler (CDU): „Die Einschätzung Russlands ist eine einheitliche geworden.“
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Angriffe auf ukrainische Infrastruktur: Wie Putins perfider Plan gescheitert ist
Im ukrainischen Mykolajiw bauen Reparaturtrupps das Stromnetz selbst unter Beschuss und in Minenfeldern wieder auf. Hier zeigt sich besonders deutlich, wie Kremlchef Putin eines seiner wichtigsten Kriegsziele verfehlt hat – auch dank deutscher Hilfe.
Stoltenberg hat ein Händchen für schwierige Männer
Der Krieg hat die Nato verändert, doch hat der Krieg auch Stoltenberg verändert? Danach sieht es nicht aus. Der Norweger, der vor einigen Tagen seinen 64. Geburtstag beging, wirkt am Dienstag bei der Vorstellung seines wahrscheinlich letzten Jahresberichts genauso wie immer: nüchtern, ruhig, fast stoisch. Nur ab und an macht er ausladende Handbewegungen, als wolle er die Bedeutung seiner Worte unterstreichen.
Der Norweger hat, was einen guten Sekretär ausmacht, der 30 Chefs hat: Er ist Diplomat durch und durch. Er hat den Populisten Donald Trump geschickt eingefangen, als dieser am liebsten der Nato den Rücken kehren wollte. Stoltenberg packte Trump bei dessen Eitelkeit und redete ihm erfolgreich ein, dass die Europäer nur deswegen mehr für die Nato bezahlten, weil Trump Führungsstärke gezeigt habe. So stimmte er auch Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron milde, als dieser die Nato als „hirntot“ bezeichnete. Eine ganz wichtige Debatte habe Macron angestoßen, lobte Stoltenberg.
Mit dieser Methode könnte es ihm zum Abschluss seiner Zeit im Nato-Hauptquartier am Rande von Brüssel vielleicht auch gelingen, den Widerstand des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gegen den Beitritt Schwedens zur Nato zu brechen. Seit Wochen umschmeichelt Stoltenberg die Türkei, nennt sie einen bedeutenden Partner.
Nato-Grenze zu Russland hat sich verdoppelt
Der Beitritt Schwedens und Finnlands wäre so etwas wie das Meisterstück Stoltenbergs. Für den Generalsekretär sind alleine die Anträge auf Mitgliedschaft ein klarer Beleg dafür, dass sich Putin verkalkuliert habe. Der russische Präsident sei mit dem erklärten Ziel in die Ukraine eingefallen, in Europa weniger Nato zu haben. Nun bekomme er das Gegenteil, sagt Stoltenberg. Die Grenze des Nato-Gebiets zu Russland werde sich mit zusätzlich 1300 Kilometern mehr als verdoppeln.
Vielleicht muss sich aber auch sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin mit der Blockade Erdogans beschäftigen. Nichts Genaues weiß man (noch) nicht in dieser Frage. Als mögliche Kandidaten werden hinter vorgehaltener Hand die estnische Premierministerin Kaja Kallas genannt, der britische Verteidigungsminister Ben Wallace und auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Mindestens bis zum Herbst bleibt Stoltenberg noch ranghöchster Zivilist der Allianz. Doch viele in der Nato-Gemeinde verspüren schon heute einen gewissen Abschiedsschmerz. „Ich wünschte mir, dass er weitermacht“, sagt CDU-Mann Gahler. Doch werde das wohl Wunschdenken bleiben. Stoltenberg selbst habe sich schließlich festgelegt, dass im Herbst Schluss sei.