Passwort Martin
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Weihnachten im Lutherland – viel stimmungsvoller als auf dem Erfurter Domplatz gehts nicht.
© Quelle: dpa
Zeitzt. Im Winter reise ich viel durch das Land, wenn es draußen kalt ist, gehen die Menschen besonders gern zu Lesungen und Konzerten. Im Winter wird Deutschland gemütlich. Kein anderes Volk kann dermaßen einheitlich und aufrichtig Gemütlichkeit produzieren, das ist für mich eine deutsche Qualitätsware. Überall Weihnachtsmärkte, Lichterketten, süße Dämpfe, grüne Tannen, rote Zipfelmützen. Und überall Luther.
Der Reformator war ein sehr umtriebiger Mann, in jeder Stadt trete ich in seine Spuren, entweder wohnte Luther dort oder er fuhr mal dran vorbei, hinterließ Nachkommen. Sogar in Zeitz fand ich eine Luther-Bibliothek, sein Enkel hatte in der dortigen Kirche die Bürgermeistertochter geheiratet. Leer und düster wirkte die Stadt zunächst, nur bei der Luther-Bibliothek standen Menschen unter einer Laterne. Es waren Flüchtlinge. Sehr schön, dachte ich, sie haben Deutsch gelernt, wollen Bücher ausleihen, vielleicht sogar ein Stückchen der lutherischen Lehre erhaschen. In unserer geistlosen Zeit muss der Hunger nach solch einer Lehre stark sein ...
Ich irrte mich. Die Menschen wollten nicht Luthers Lehre, sie wollten das kostenlose WLAN. Jemand hatte das Passwort geknackt, es war angeblich „Martin“, sehr intelligent. Wenn man nah an der Wand stand, hatte man Empfang. Trotzdem sah ich darin ein Wunder. Wenn nicht durch seine Worte, so konnte doch durchs WLAN Luthers Funke die Seelen der Menschen wärmen, sie zusammenbringen und ihnen helfen, schwere Zeiten gemeinsam zu überstehen. Das Passwort „Martin“ funktioniert also doch noch, dachte ich und fuhr weiter nach Erfurt.
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller in Berlin.
Von Wladimir Kaminer