RND-Reporter Can Merey reist von Berlin nach Kiew

Ankunft in der ostpolnischen Grenzstadt Chelm: die letzte Station vor dem Krieg

Das ostpolnische Chelm ist der letzte Bahnhalt vor der Weiterreise in die kriegsgeplagte Ukraine.

Das ostpolnische Chelm ist der letzte Bahnhalt vor der Weiterreise in die kriegsgeplagte Ukraine.

Chelm/Kiew. Viktoria Makarchuk steht an diesem sonnigen Herbstnachmittag auf dem Bahnsteig in der ostpolnischen Grenzstadt Chelm und wartet darauf, in den Nachtzug nach Kiew einsteigen zu können. Die 34-Jährige arbeitet für ein IT-Unternehmen in der ukrainischen Hauptstadt, sie kehrt von einer Konferenz in Lissabon zurück nach Hause – ins Kriegsgebiet, wo noch an diesem Morgen russische Luftangriffe Zerstörung gebracht haben. „Es ist das erste Mal seit Kriegsbeginn, dass ich die Ukraine verlassen habe“, sagt die junge Frau, deren Ehemann in Kiew auf sie wartet. „Ich habe nie darüber nachgedacht, aus der Ukraine zu fliehen. Das ist eine Frage der Moral.“

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Aus Berlin kommend ist Chelm die Endstation vor dem Krieg. Auf Gleis drei ist dort gerade der Intercity aus Warschau eingefahren. An den letzten Bahnhöfen vor der Grenze hat noch Normalität geherrscht: Kleine Kinder springen beim Aussteigen ihren Großeltern in die Arme, junge Paare küssen sich auf dem Bahnsteig, eine aufgekratzte Gruppe polnischer Jugendlicher bricht zu einer Klassenfahrt auf. In Chelm selber steigen quasi alle Passagiere in den Nachtzug nach Kiew um, der schon auf dem gegenüberliegenden Gleis wartet. Flüge in die Ukraine gibt es seit Kriegsbeginn nicht mehr. „Es ist das erste Mal seit zehn Jahren, dass ich mit dem Zug nach Kiew fahre“, sagt Makarchuk.

Die Ukrainerinnen Anastasiia Doronina und Viktoria Makarchuk waren auf Dienstreise in Lissabon und fahren nun mit dem Zug zurück nach Kiew.

Die Ukrainerinnen Anastasiia Doronina und Viktoria Makarchuk waren auf Dienstreise in Lissabon und fahren nun mit dem Zug zurück nach Kiew.

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Politiker-Shuttle nach Kiew

Die Bahn ist zur Lebenslinie der Ukraine geworden, der Krieg hat dem Schlafwagen zu einer gewissen Renaissance verholfen – auch dank Politikern, die internationale Reisen normalerweise nicht am Boden mit dem Zug zurücklegen, sondern in der Luft in der Business Class, wenn sie nicht gleich im Regierungsjet unterwegs sind. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, CDU-Chef Friedrich Merz, der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO, Rafael Grossi – sie alle sind per Schlafwagen in die Ukraine gereist. Der ukrainische Bahnchef Alexander Kamyschin nennt es auf Twitter „eine Ehre“, internationale Prominenz in die Ukraine und zurückbringen zu dürfen.

Für uns – den Fotografen Andy Spyra und mich – ist es ein Novum, bei einem Einsatz in einem Kriegsgebiet die Bahn zu nehmen. Zusammengenommen haben wir als Reporter in den vergangenen zwei Jahrzehnten zahlreiche Krisen und Kriege auf dem Balkan, in Asien und in Afrika gecovert. So unterschiedlich die Konflikte waren, eines einte sie: Wir reisten jeweils mit dem Flugzeug dorthin.

Hauptstadt-Radar

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Während ich diese Zeilen schreibe, steht unser Zug gefühlt seit Ewigkeiten an der Grenze zwischen Polen und der Ukraine, was womöglich erklärt, warum die Fahrt bei der gut 500 Kilometer langen Strecke auf knapp 14 Stunden veranschlagt wird. Ungefähr dreieinhalb Quadratmeter ist unser Schlafwagenabteil groß, links und rechts sind blau gemusterten Pritschen. Dazwischen lässt sich ein kleiner Tisch aufklappen, über dem wiederum das Fenster ist. Auf den Scheiben klebt Splitterschutzfolie, die Schäden bei russischem Beschuss minimieren soll. Am Eingang des Schlafwagens befindet sich eine Toilette, die wir uns mit den anderen Passagieren teilen. Alles ist blitzsauber, für eine Nacht im Zug ist die Unterkunft fast schon luxuriös. Die Mitreisenden sind ebenso freundlich wie die Bahnmitarbeiter.

Diesen Mitarbeitern der ukrainischen Bahn ist zu verdanken, dass Andy und ich überhaupt in unserem Schlafwagenabteil sitzen. (Genau genommen liegt Andy auf seiner Pritsche, weil unsere Taschen mit den Schutzwesten, den Helmen, den Erste-Hilfe-Kits und dem restlichen Gepäck auf dem Boden zwischen uns keinen Platz mehr zum Sitzen lassen.) Auch wenn die Bahn-App auf Nachfrage Verbindungen nach Kiew auswirft: Schlafwagen auf der Strecke sind darüber nicht zu buchen.

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25.07.2022, Ukraine, Irpin: Oleh Bondar (l), Bürgermeister von Irpin, Nancy Faeser (SPD, vorne), Bundesministerin für Inneres und Heimat, und Hubertus Heil (SPD, l), Bundesminister für Arbeit und Soziales, stehen vor zerstörten Gebäuden der Stadt Irpin. Foto: Christophe Gateau/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Bürgermeister von Irpin: „Ich kann nicht verstehen, warum sie uns so sehr hassen“

Oleksandr Markuschyn, der Bürgermeister von Irpin, schildert seine persönliche Sicht auf den Krieg – samt all der Gefühle, die für ihn wie für alle seine Landsleute überwältigend sind. Seine Sicht auf die Zukunft ist trotzdem positiv.

Ticketkauf in Kiew – per Whatsapp

Ein hilfreicher Korrespondentenkollege in Kiew hat uns Tipps für die Reise in die Ukraine gegeben, darunter den Kontakt zu einer ukrainischen Bahnmitarbeiterin namens Yulia. „Can, hallo, ich werde versuchen, eine Lösung zu finden“, antwortet mir Yulia vor einigen Wochen auf meine Frage, ob sie uns eines der schwer erhältlichen Schlafwagenabteile buchen könne. Wir müssten Kopien unserer Reisepässe schicken, dann werde ihr Mitarbeiter Oleksander persönlich an den Ticketschalter in Kiew gehen und unsere Fahrkarten kaufen, schreibt sie – ich müsse Oleksander nur umgerechnet knapp 90 Euro für den Fahrpreis schicken.

Einige Apps wollen mich nicht in der Landeswährung überweisen lassen, andere nur auf Debit-Karten, irgendwann gelingt mir der Geldtransfer – und wenige Minuten später bekomme ich von Yulia Fotos mit unseren Fahrkarten. „Wir schicken sie mit der Besatzung mit“, lässt sie mich per Whatsapp wissen. Das Zugpersonal in Chelm werde unsere Tickets haben.

Unsere Tickets für die Zugfahrt von Chelm nach Kiew.

Unsere Tickets für die Zugfahrt von Chelm nach Kiew.

Der Warschau-Express

Auf unserem Weg nach Kiew sind Andy und ich aus Berlin aufgebrochen, der Warschau-Express bringt uns in die polnische Hauptstadt. Auch dieser Zug wirkt – wie die Schlafwagen nach Kiew – ein wenig wie eine Reminiszenz an alte Zeiten. Im Speisewagen werden die Gerichte nicht lieblos in die Mikrowelle gesteckt, dort kocht die Besatzung persönlich für die Gäste. Mit Käse gefüllte Piroggen kosten 6,40 Euro, ein halber Liter Bier 3,10 Euro. Von Warschau aus fährt uns der Intercity 82106 nach Chelm, in den hochmodernen Waggons mit kabellosen Smartphone-Ladestationen ist zu lesen, dass sie mit EU-Mitteln aufgepeppt wurden.

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In Chelm sind wir dann doch etwas nervös: Hat da wirklich ein Schaffner unsere Tickets? Wir suchen Wagen sechs, es ist noch weit über eine Stunde bis zur Abfahrt, dennoch öffnet uns jemand die noch verriegelte Waggontür: Anna Jaroschenko ist die Schlafwagenschaffnerin, was in dem Moment nicht so recht zu erkennen ist, weil sie einen Jogginganzug trägt. Als ich ihr Yulias Whatsapp-Foto von unseren Fahrscheinen zeige, grinst sie. „Ich habe eure Tickets“, sagt sie auf Englisch. Als Jaroschenko bald darauf offiziell unseren Waggon öffnet, trägt sie Uniform und ist wie aus dem Ei gepellt – und sie heißt uns herzlich willkommen in ihrem Schlafwagen.

Viktoria Makarchuk und ihre Kollegin Anastasiia Doronina (27), die gemeinsam mit ihr auf Dienstreise in Lissabon war, sind auf ihrem Weg nach Kiew ebenfalls in Wagen sechs untergebracht. Zufälligerweise haben wir uns mit den beiden jungen Frauen schon ein Abteil im Zug von Warschau nach Chelm geteilt. Als wir darauf warten, dass Anna Jaroschenko uns in den Schlafwagen lässt, kommen wir auf dem Bahnsteig ins Gespräch.

Portrait von Anna Jaroschenko.

Portrait von Anna Jaroschenko.

„Die Ukraine ist unsere Heimat“

Viktoria Makarchuk betont mehrfach, dass sie aus ihrem Heimatland nicht fliehen werde. „Die Ukraine ist unsere Heimat.“ Sie räumt aber auch ein, dass sie womöglich anders denken würde, falls sie und ihr Ehemann schon Kinder hätten. Irgendwann vor unserer Weiterfahrt sagt Makarchuk dann: „Das ist die perfekte Zeit, um Kiew zu besuchen.“ Als sie merkt, dass das vor dem Hintergrund der russischen Angriffe womöglich etwas sonderbar klingt, fügt sie eilig hinzu, ihre Aussage beziehe sich nicht auf den Krieg – sondern aufs Wetter. „Der Herbst ist wunderschön in Kiew.“

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Zur Reise

Can Merey (50) reist mit dem Fotografen Andy Spyra durch die Ukraine, unterstützt werden sie dabei von ihrem lokalen Kollegen Yurii Shyvala. Merey ist seit dem 1. Oktober 2022 Krisenreporter und Leiter Investigativ beim RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) in Berlin. Zuvor war er fast zwei Jahrzehnte lang Auslandskorrespondent der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Für die Nachrichtenagentur leitete er zwischen 2003 und 2022 das Südasien-Büro in Neu Delhi, das Nahost-Büro in Istanbul und zuletzt das Nordamerika-Büro in Washington. Er ist der Autor von zwei Büchern: „Die afghanische Misere – warum der Westen am Hindukusch zu scheitern droht“ (2008) und „Der ewige Gast – wie mein türkischer Vater versuchte, Deutscher zu werden“ (2018).

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