Russland – das Land der mysteriösen Fensterstürze
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Rawil Maganow (r.) im Jahr 2014 bei einem Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.
© Quelle: imago/ITAR-TASS
Ein Gespenst geht um, im Russland Wladimir Putins. Auf Englisch nennt sich das Phänomen Defenestration, auf Deutsch etwas hölzern Fenstersturz. Es kann jeden treffen, im Russland des Jahres 2022, besonders häufig aber Ärzte, Journalisten, Wirtschaftsbosse, Blogger.
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Jüngstes Opfer: Rawil Maganow, Vorstandschef des zweitgrößten russischen Ölkonzerns Lukoil. Der 67-Jährige fiel aus dem Fenster im sechsten Stockwerk des Moskauer Zentralkrankenhauses, in dem normalerweise die Elite aus Politik und Wirtschaft behandelt wird. Maganow war nach einem Herzinfarkt eingeliefert worden, wurde zudem mit Antidepressiva behandelt, wodurch als Todesursache schnell Suizid festzustehen schien, so zumindest behauptet es die staatliche Agentur Interfax unter Berufung auf die Polizei.
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© Quelle: dpa
„Okkulte Handlungen“
Maganow war ein enger Mitarbeiter von Vagit Alekperow, einem der Lukoil-Gründer und der ehemalige sowjetische Vizeölminister. Der war nach Beginn des Ukraine-Krieges zurückgetreten. Im Mai war schon ein Lukoil-Manager gestorben – Alexander Subbotin. Offizielle Todesursache: Eine öffentlich nicht näher beschriebene „okkulte Behandlung“, auf die er sich angeblich wegen seiner Alkoholsucht eingelassen hatte, geriet wohl irgendwie aus dem Ruder.
Mitte September wurde auch die russische Medienbranche von einem plötzlichen Todesfall erschüttert. Bei einer Recherchereise im Fernen Osten Russlands ist der 68-jährige Chef der Zeitung „Komsomolskaja Prawda“, Wladimir Sungorkin, verstorben – wohl durch einen „Schlaganfall“, wie das Blatt berichtet. Sungorkin galt als kremltreu, seine Zeitung als Favorit des Präsidenten Wladimir Putin.
In Russland hat man sich an solche Erklärungen gewöhnt, niemand hinterfragt sie. So wird auch niemand fragen, warum sich Maganow aus dem sechsten Stockwerk stürzte, wo doch das Zentralklinikum in Moskau acht Etagen hat und sein Suizid aus dem sechsten Stockwerk für den Selbstmörder das nicht geringe Risiko birgt, mit schlimmen Lähmungen zu überleben.
Laut CNN starben seit Ende Januar mindestens acht prominente russische Geschäftsleute durch Selbstmord oder bei noch ungeklärten Unfällen, allein sechs von ihnen entstammen dem Dunstkreis der beiden größten Energieunternehmen Russlands. Vier dieser sechs standen mit dem staatlichen Energieriesen Gazprom oder einer seiner Tochtergesellschaften in Verbindung, die anderen zwei mit Lukoil. Vor allem in der Konzernspitze von Lukaol gab es zu Beginn des Krieges deutlichen Unmut über Putins Kurs.
Igor Wolobujew, langjähriger Vizechef der Gazprombank, bezweifelte in einem Interview auf Youtube Ende April, dass es sich bei diesen dubiosen Todesfällen um Selbstmorde gehandelt habe. Diesen Mut brachte er nur auf, weil er kurz zuvor in die Ukraine geflohen war und sich dort sicher fühlte.
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Den Krieg einfrieren, wieder mit Russland verhandeln: Wie realistisch sind diese Forderungen?
In offenen Briefen und TV-Sendungen sprechen sich Politiker, Künstler und Intellektuelle gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und für Friedensverhandlungen aus – zuletzt Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer. Wir haben seine zentralen Thesen mit drei Experten aus verschiedenster Perspektive auf Umsetzbarkeit und Stichhaltigkeit geprüft.
Drei Mitarbeiter des Gesundheitswesens
Zumeist werden bei den Todesursachen so komplizierte Begründungen wie im Fall Subbotin („okkulte Handlungen“) gar nicht erst bemüht – die Menschen springen scheinbar freiwillig aus Fenstern oder von Balkonen. So wie im Fall von drei Mitarbeitern des russischen Gesundheitswesens, die zu Beginn der Corona-Pandemie 2020 auf mysteriöse Weise an ihren Arbeitsplätzen das Gleichgewicht verloren und aus Fenstern stürzten.
Alexander Shulepow, ein Notarzt in Woronesch, einer Stadt etwa 520 Kilometer südlich von Moskau, fiel aus dem Fenster im zweiten Stock des Nowousmanskaja-Hospitals, in dem er arbeitete und auch behandelt wurde, nachdem er positiv auf das Coronavirus getestet worden war. Es hieß, ein Kollege des Arztes hatte kritisiert, dass Shulepow trotz Corona-Erkrankung weiter Patienten behandeln musste.
Am 24. April 2020 fiel Natalya Lebedeva, die Leiterin des Rettungsdienstes einer Trainingsbasis für russische Kosmonauten, aus einem Fenster des Krankenhauses, in dem sie ebenfalls wegen einer Covid-19-Infektion behandelt wurde, und starb. Jelena Nepomnyaschtschaja, Spitzenärztin eines Krankenhauses in Sibirien, fiel während einer Telefonkonferenz aus einem Fenster und starb am 1. Mai nach einer Woche auf der Intensivstation.
Die mysteriöse Fallsucht befällt Russen jedoch auch im Ausland: Am 14. August 2022 war der lettisch-amerikanische Nawalny-Vertraute und Kremlkritiker Dan Rapoport (52, geboren in der Sowjetunion) in Washingtons West-End-Viertel tot aufgefunden worden.
Er soll sich aus seiner Wohnung gestürzt haben. Zuvor hatte er seinen Hund im nahe gelegenen Park freigelassen, auch ein Abschiedsbrief soll sich in seiner Tasche befunden haben – behauptet laut „Bild“ die russische Journalistin Yuniya Pugachewa. Weiterhin behauptet diese, den Kremlkritiker im Mai in einer Londoner Bar in Begleitung „junger Mädchen“ gesehen zu haben. Der Verdacht: Moskau inszeniert nicht nur den Tod, sondern liefert gleich noch das Narrativ dazu, die Erzählung also.
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In der Botschaft Russlands in Berlin war am 5. November 2021 der Sohn eines hochrangigen russischen Geheimdienstoffiziers aus dem Fenster gefallen.
© Quelle: Jörg Carstensen/dpa
Auch in Deutschland fallen gelegentlich Russen aus dem Fenster: Kirill Zhalo, 35, Sohn eines hochrangigen russischen Geheimdienstoffiziers, wurde am 5. November 2021 tot aufgefunden, nachdem er aus einem Fenster im dritten Stock der russischen Botschaft in Berlin gestürzt war, wie der „Spiegel“ berichtet.
Am 15. April 2018 stürzte Maxim Borodin, 32, Reporter für die lokale Novy-Den-Website, vom Balkon im fünften Stock seines Apartments in Jekaterinburg. In Russland hatte er es zu einer gewissen Prominenz gebracht, seit er Enthüllungsgeschichten über Kriminalität und politische Korruption schrieb.
Vor allem hatte er sich in Jewgeni Prigozhin festgebissen, einem Oligarchen, der in den USA in Abwesenheit angeklagt worden war, weil er eine „Trollfabrik“ betrieben hatte, die mutmaßlich die US-Präsidentschaftswahlen 2016 beeinflusst hatte. Paulina Rumjantsewa, eine Redakteurin, zweifelte gegenüber CNN an der offiziellen Todesursache Selbstmord: „Da Maxim große Pläne für sein Privatleben und seine Karriere hatte, spricht nichts für einen Selbstmord.“ Und: Er war zuvor mehrfach bedroht worden.
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Putin regiert wie einst Iwan der Schreckliche
Kriege führen, Angst verbreiten – so sicherte Iwan der Schreckliche, Russlands gefürchteter erster Zar, seine Macht. Ein britischer Historiker sieht „frappierende Parallelen“ zu Wladimir Putin. Einer von fünf auffälligen Punkten: Die russisch-orthodoxe Kirche gibt heute wie vor 500 Jahren einem furchtbaren Gewaltherrscher ihren Segen.
Begründung: Er habe versucht, die Badewanne zu verschieben
Im März 2017 stürzte Nikolai Gorokhow, der Anwalt von Sergei Magnitsky, der die Quelle für die Berichterstattung über Russlands größten Steuerbetrug war, aus einem Fenster im vierten Stock. Er habe bei Arbeiten im eigenen Bad versucht, die Badewanne zu verschieben, mühten sich die russischen Behörden den „Unfall“ zu präzessieren.
Im November 2015 wurde Michail Lesin, der zuvor als staatlicher Medienzar von Präsident Wladimir Putin bezeichnet wurde, aber bei ihm in Ungnade gefallen war, nach einem Sturz in seinem Hotelzimmer in Washington, D. C., tot aufgefunden. Das FBI sagt, er sei durch extremen Alkoholkonsum gestürzt, hatte zudem Spuren von Gewaltanwendung am Kopf und Verletzungen an Hals, Armen, Beinen und Oberkörper.
Im Februar 2012 starb Victor Aphanasenko, Herausgeber einer Zeitung, die paramilitärische Überfälle in Südrussland untersucht hatte, offizielle Erklärung: Er war in seinem Haus ausgerutscht.
Im November 2009 stürzte die unabhängige Rundfunksprecherin Olga Kotowskaja aus einem Fenster im 14. Stock in den Tod. Sie hatte mit einem Regierungsmitglied um die Kontrolle über ihren Radiosender gestritten. Auch ihr Tod gilt bis heute als Selbstmord.
Im März 2007 starb Iwan Safronow, der den Verkauf russischer Waffen an den Iran und Syrien untersucht und thematisiert hatte, nachdem er aus einem Fenster im fünften Stock gefallen war. Natürlich war auch das Selbstmord, so die offizielle Behauptung. Als Freunde und Kollegen das öffentlich anzweifelten, wurde gegen sie ein Verfahren eingeleitet – wegen möglicher „Anstiftung zum Suizid“.
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Ein Mann legt an einem großen Porträtfoto von Anna Politkowskaja in Moskau am 7. Oktober 2009 eine Nelke nieder (Archivfoto). Die Journalistin Anna Politkowskaja hat ihre Kritik an den Machtstrukturen in Russland 2006 mit dem Leben bezahlt.
© Quelle: picture alliance / dpa
Offenbar hatten die Mörder dazugelernt seit dem Tod der bekanntesten russischen Investigativjournalistin Anna Politkowskaja, die am 7. Oktober 2006 im Treppenhaus ihrer Moskauer Wohnung von mehreren Schüssen getroffen starb, was sehr zum Missfallen des Kreml weltweit für enormes Aufsehen gesorgt hatte.
Zu einem Zeitpunkt, als Präsident Wladimir Putin vielen im Westen noch als lupenreiner Demokrat galt, deckten Politkowskajas Recherchen die beispiellosen Verbrechen der russischen Armee im Zweiten Tschetschenienkrieg (seit 1999) auf, dieser galt allgemein als Putins „Gesellenstück“ auf seinem Weg in den Kreml. Dieser Krieg gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung, der im Westen kaum wahrgenommen wurde, kostete 50.00 bis 80.000 Menschenleben.
Korobeinikow ist wohl ein bisschen zu hoch gestiegen ... Sein Herz machte ihm Probleme.
Untersuchungsbericht der russischen Polizei
Derartige Anschläge auf Prominente wie Politkowskaja, die Russlands Ansehen schadeten, wurden seltener – hörten aber nie auf. So wurde am 27. Februar 2015 im Herzen Moskaus der demokratische Politiker Boris Nemzow von Unbekannten erschossen. Laut dem russischen Komitee zum Schutz von Journalisten und der Glasnost Defense Foundation wurden seit 2000 zudem Dutzende russischer Journalisten ermordet.
Auch unliebsame Geschäftsleute werden aus dem Weg geräumt: Im Jahr 2008 war Semjon Korobeinikow, ein Investor, der Betrügereien einer russischen Bank namens USB (Universal Savings Bank) auf die Spur gekommen war, beim Besuch einer Moskauer Baustelle für ein Luxusapartment in die Tiefe gestürzt. Zynisch kommentierte die Polizei laut dem britischen „Guardian“ im Untersuchungsbericht den Vorfall: „Korobeinikow ist wohl ein bisschen zu hoch gestiegen … Sein Herz machte ihm Probleme, er fiel und erlitt Verletzungen, die mit einem Weiterleben nicht in Einklang zu bringen waren.“