Seneca im Silicon Valley: Neuer Schub für alte Denker
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Er sieht sich als modernen Stoiker: Jack Dorsey, Mitgründer und heutiger Chef von Twitter.
© Quelle: Francois Mori/AP/dpa
Schon oft schimmerte über der Westküste der USA das Kommende: Digitalisierung, Globalisierung, Amazonisierung. Neuerdings aber ist eine Hinwendung zum Alten, gar zur Antike angesagt.
Lässig kommt in Kalifornien rüber, wer sich einigermaßen mit Seneca auskennt, dem Griechen Epiktet und natürlich dem römischen Kaiser und Philosophen Marcus Aurelius. Diese drei stehen für den Stoizismus, eine Philosophie, die zwar 2000 Jahre alt ist, von der aber viele glauben, sie könne angesichts nachlassender religiöser Bindungen als brauchbares Weltethos fürs 21. Jahrhundert funktionieren.
Die „New York Review of Books“ stellte allein in dieser Woche sechs neue Bücher zum Stoizismus vor. Es gibt auch Apps, Managerseminare und Meditationen zum Thema. Der Twitter-Account „Daily Stoic“ liefert Weisheiten für jeden Tag.
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Als Posterboy der neuen Stoiker gilt Twitter-Chef Jack Dorsey. Er sagt, die Philosophie helfe ihm, klarer zu denken. Dorsey meditiert angeblich zweimal am Tag, er geht oft fünf Meilen zu Fuß ins Büro und nimmt morgens eiskalte Bäder.
Stoiker kontrollieren ihre Gefühle durch den Intellekt. Das hat drei Vorteile: Es erleichtert ein zivilisiertes Miteinander. Es hilft bei der Akzeptanz von Unabänderlichem. Und es entfaltet bei Ängsten sogar therapeutische Effekte.
Der Stoizismus ist jedoch keine Wellness-Philosophie. „Die von den Stoikern angestrebte Seelenruhe resultiert nicht, wie manche glauben, aus Rückzug und Isolation, sondern daraus, dass der Stoiker in einem umfassenden Sinn ein tugendhaftes Leben führt“, betont die Schweizer Philosophin Barbara Bleisch im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.
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Die Philosophin Barbara Bleisch.
© Quelle: Mirjam Kluka
„Arbeite!“, schrieb einst Marcus Aurelius. „Aber nicht wie ein Unglücklicher oder einer, der bewundert oder bemitleidet werden will. Arbeite oder ruhe, wie es das Beste für die Gemeinschaft ist.“
Eine Einbindung des Einzelnen in ein großes Ganzes entspricht dem vor 2000 Jahren entwickelten Gedankengebäude der Stoiker. Der Einzelne behält darin aber eine wichtige Rolle und unveräußerliche Rechte, unabhängig von der Herkunft. Stoisch beharrt der Stoiker auf dem Recht, auch gegenüber Mächtigen.
Überlebenstipps für den Lockdown
Der Name der Philosophie geht auf die Stoa zurück, eine Säulenhalle in Athen. Die Lehren der Stoa sind oft kurz und anspruchsvoll zugleich. Beispiel: „Sei tolerant gegenüber anderen – und streng dir selbst gegenüber.“ Fans finden solche Sprüche super und beschreiben ihre Wirkung sogar als „lebensverändernd“.
Bleisch fasst das Resilienzsystem der Stoiker so zusammen. „Sie haben unterschieden zwischen dem, was wir ändern können, und dem, was wir nicht ändern können – und empfohlen, sich auf das Veränderbare zu konzentrieren und sich über das Unabänderliche nicht mehr aufzuregen.“
Ihre neue Popularität verdanken die Stoiker der Pandemie. Rund um die Welt werden ihre Lehren teilweise wie Gebrauchsanleitungen für Krisenfälle gelesen. Denn sie laufen darauf hinaus, die Fassung zu bewahren. Der australische Philosoph Matthew Sharpe lieferte während eines besonders strikten Lockdowns seinen Landsleuten „Sechs stoische Überlebenstipps“.
Würde ein Stoiker akzeptieren, dass das Impfen in Deutschland nun mal langsamer läuft als anderswo?
„Da muss man differenzieren“, sagt Bleisch. „Immer dort, wo es Spielräume politischer Art gibt, reden wir ja über etwas Veränderbares. Da würde auch ein Stoiker nicht alles kritiklos hinnehmen, sondern mutig für Veränderung plädieren. Anders wäre es in einer Konstellation mit einer objektiven Knappheit. Mit der würde er sich abfinden.“
Wie findet es der Stoiker, dass um ihn herum auch alle anderen Europäer geimpft werden sollen? „Das ist ganz im Sinne der stoischen Philosophie“, sagt Bleisch. „Die Stoiker waren Kosmopoliten und haben alle Menschen einbezogen, über Staatsgrenzen hinweg, und dies schon vor mehr als 2000 Jahren. Stoisch wäre es daher, auf einen Zugang aller Menschen zu Corona-Impfstoffen hinzuwirken, ganz egal, wo diese Menschen leben.“
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Stoizismusexpertin Anna Schriefl: „Die Leute scheinen sich tatsächlich wieder für Philosophie zu interessieren.“
© Quelle: Universität Zürich
In Deutschland registriert die Stoizismusexpertin Anna Schriefl einen zumindest beginnenden leisen Boom rund um Seneca und Co. Die 41-Jährige ist gerade von Bonn nach Berlin umgezogen als neue Mitarbeiterin der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität. Zuvor hat sie eine Zeit lang in New York gelebt. Ende vorigen Jahres war sie Gast der Sendung „Sternstunde Philosophie“, die Bleisch im Schweizer Fernsehen moderiert.
Völlig unerwartet ziehen jetzt die Verkaufszahlen eines Reclam-Büchleins stark an, das Schriefl geschrieben hat: „Stoische Philosophie. Eine Einführung“. Das kleine gelbe Ding kostet 7,80 Euro. „Da ist noch nicht mal ein Bild drauf“, sagt Schriefl. „Trotzdem verkauft es sich.“ Reich wird Schriefl damit nicht. Aber das Phänomen bringt gute Laune: „Die Leute scheinen sich tatsächlich wieder für Philosophie zu interessieren.“