Folgen der Corona-Pandemie

Sozialforscher Butterwegge: Reiche wurden noch reicher und die Armen zahlreicher

Der Poltikwissenschaftler Christoph Butterwegge auf einer Pressekonferenz 2015.

Der Poltikwissenschaftler Christoph Butterwegge auf einer Pressekonferenz 2015.

Berlin. Professor Christoph Butterwegge (71) ist Politikwissenschaftler und hat sich vor allem als Armutsforscher einen Namen gemacht. Er lehrte von 1998 bis 2016 an der Universität zu Köln. Butterwegge steht seit seinem Austritt aus der SPD der Partei Die Linke nahe, trat für sie 2017 in der Bundesversammlung für das Amt des Bundespräsidenten gegen Frank-Walter Steinmeier an. Am 18. Mai 2022 erscheint sein Buch „Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona“ bei Beltz Juventa.

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Herr Professor Butterwegge, als die Pandemie vor zwei Jahren noch relativ frisch war, prognostizierten einige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Deutschland werde als Gesellschaft gestärkt daraus hervorgehen. Wie lautet Ihr Fazit?

Nach meiner Wahrnehmung ist die Solidarität untereinander ebenso schnell verflogen wie der anfänglich demonstrativ herausgestellte Respekt gegenüber Angehörigen systemrelevanter Berufszweige wie Krankenschwestern, Altenpflegern, Lkw-Fahrern oder Verkäuferinnen.

Dagegen stieg die Ungleichheit zwischen Ärmeren sowie Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen. Da hat die Pandemie wie ein sozioökonomischer Paternoster gewirkt: Während einzelne Bevölkerungsschichten nach oben fuhren, wurden andere weiter nach unten befördert. Anders ausgedrückt: Manche Reiche sind noch reicher geworden, die Armen zahlreicher.

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Das klingt sehr pauschal.

Also, wenn Deutschland gestärkt aus der Pandemie hervorgegangen wäre, müsste es zumindest auch denen besser gehen, die schon vorher am Boden waren, zum Beispiel Wohnungs- und Obdachlosen. Für diese Menschen ist vom Staat aber so gut wie nichts getan worden, was bei ihnen eine Tendenz zur Verelendung begünstigte.

Im Gegensatz dazu ist das Vermögen von Lidl- und-Kaufland-Inhaber Dieter Schwarz laut des US-Wirtschaftsmagazins Forbes während der Pandemie um 7,5 Milliarden Dollar auf 45,5 Milliarden gestiegen. Wie war das möglich? Ganz einfach: Von den 600.000 Menschen, die in Deutschland ihren Minijob verloren, hatten 400.000 nur den.

Eine Mitarbeiterin eines Tafel-Ladens trägt eine Kiste voll mit Obst und Gemüse. Für Menschen in Not sind die Tafeln wichtige Anlaufstellen.

Eine Mitarbeiterin eines Tafel-Ladens trägt eine Kiste voll mit Obst und Gemüse. Für Menschen in Not sind die Tafeln wichtige Anlaufstellen.

Wer arbeitslos, Kurzarbeiter oder Geringverdiener ist, muss sich im Discounter versorgen. Arme finanzieren so den Reichtum von Multimilliardären, ganz konkret. Das schwächt den gesellschaftlichen Zusammenhalt und gefährdet womöglich die Demokratie.

Die Erkrankung selbst hat alle Schichten in Deutschland getroffen. Dennoch sind nicht alle vor dem Virus gleich, schreiben Sie. Welche Wechselwirkungen gab es da?

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Zuerst gab es eher eine Pandemie der Privilegierten, weil sich anfangs wohlhabende Skiurlauber infizierten. Ich sage nur: Ischgl. Probleme gab es zuerst in prosperierenden Gebieten Süddeutschlands, etwa bayerischen Städten. Später hat sich die Situation verkehrt, als sich Werkvertragsarbeiter in der Fleischindustrie und andere Menschen, die in Gemeinschaftsunterkünften leben müssen, ansteckten.

Die zweite Welle lief dann ähnlich. Als sich im Sommer 2020 alles zu beruhigen schien, sind die Bessergestellten in den Urlaub gefahren und brachten eine neue Virusvariante mit. Danach wurde Covid-19 wieder mehr zu einer Krankheit der Unterprivilegierten.

Es dauerte rund 14 Monate, bis ein Hartz-IV-Bezieher im Mai 2021 eine Zahlung von 150 Euro erhielt.

Christoph Butterwegge

Armutsforscher

Die Wohnsituation machte den Unterschied?

Ja, das haben Untersuchungen in einzelnen Großstädten gezeigt. Während in Villenvierteln, deren Bewohner sich besser abschotten konnten, weil sie im Homeoffice blieben oder mit der Limousine ins Büro fuhren, Inzidenzen von Null registriert wurden, lagen sie in den Stadtteilen, wo die meisten wenig verdienen und mit Bus oder Bahn zum Job fahren, bei mehreren Hundert.

Die Wohnsituation wirkt sich im Übrigen enorm auf die Bildungsqualität aus. Es ist schon ein Unterschied, ob das Kind in einer Geflüchtetenunterkunft oder einer Zweizimmerwohnung mit der Familie ohne WLAN beim Homeschooling abgehängt wurde oder ob es im eigenen Zimmer und mit guter digitaler Ausstattung lernen konnte. Ich glaube, das ist vielen Menschen erst in dieser Pandemie so richtig klar geworden: Sozioökonomische Ungleichheit bedeutet auch Wohn- und Bildungsungleichheit.

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Als damaliger Finanzminister setzte Olaf Scholz doch eine „Milliarden-Bazooka“ für Hilfen ein. Traf die nicht die Richtigen?

Nur zum Teil, denn die Finanzhilfen des Bundes hatten eine verteilungspolitische Schieflage. Es war zwar richtig, kriselnde Unternehmen mit Steuergeldern zu stützen, um Arbeitsplätze zu erhalten. Man kann darüber streiten, ob Konzerne wie TUI, Lufthansa oder Galeria Karstadt Kaufhof nicht auch ohne Hilfe aus dem bereits im März 2020 mit einem Volumen von 600 Milliarden Euro aufgelegten Wirtschaftsstabilisierungsfonds über die Runden gekommen wären.

Die von der Pandemie am härtesten Getroffenen, also Wohnungs- und Obdachlose, Geflüchtete, Werkvertragsarbeiter, Menschen mit Behinderungen, Transferleistungsbezieher und Rentnerinnen, erhielten aber so gut wie nichts. Es dauerte rund 14 Monate, bis ein Hartz-IV-Bezieher im Mai 2021 eine Zahlung von 150 Euro erhielt. Obdachlose, die ärmsten der Armen, bekamen gar nichts und hatten Glück, wenn die Notunterkunft im ersten Lockdown nicht sofort schloss. Das halte ich für einen sozialen Skandal.

War denn der Kinderbonus von 300 Euro pro Kind gut angelegt?

Familien standen vor besonderen Herausforderungen – besonders, wenn die Eltern auf Transferleistungen angewiesen waren. Im Bildungs- und Teilhabepaket ist zum Beispiel ein kostenloses Mittagessen für die Kinder enthalten. Da Schulen und Kitas zeitweilig geschlossen waren, kamen auf Eltern plötzlich höhere Verpflegungskosten zu.

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Da relativiert sich der einmalige Kinderbonus von 300 Euro. Leider gab es weder einen Ernährungszuschlag für Arme noch eine vorübergehende Anhebung der Bedarfssätze.

Was ist dran an dem Vorwurf, Kinder und Jugendliche hätten in der Pandemie als Sündenböcke herhalten müssen?

Ich halte wenig davon, die Generationen gegeneinander auszuspielen. Das ist aber in der pandemischen Ausnahmesituation passiert. Jugendliche wurden bezichtigt, Corona-Partys zu feiern und durch ihre mangelnde Vorsicht alte Menschen zu gefährden.

Ein Jahr Lockdown: „Kinder verlieren fast ein ganzes Jahr“

Vor einem Jahr ging Deutschland in den ersten Lockdown. Davon wurden auch die Kinder im Land hart getroffen, sagt Kinderschutzbundpräsident Heinz Hilgers.

Den Senioren wurde vorgeworfen, wegen ihrer Vulnerabilität für Einschränkungen des Alltags junger Menschen verantwortlich und aufgrund der Impfpriorisierung diesen gegenüber privilegiert zu sein. Das ist ein Beispiel für die Entsolidarisierung innerhalb einer ökonomisch und sozial auseinanderdriftenden Gesellschaft. Wäre diese gleicher, könnten sich ihre Mitglieder stärker miteinander identifizieren.

In der Pandemie registrierten die Behörden das Ansteigen häuslicher Gewalt. Ist das vor allem ein Problem in Familien mit schmalem Geldbeutel?

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Häusliche Gewalt sowohl gegenüber Frauen als auch gegenüber Kindern gibt es in allen Bevölkerungsschichten. Selbst die Familie des Arztes oder der Lehrerin ist davor nicht gefeit. Aber wenn Eltern nicht wissen, ob sie für ihre Kinder am 20. des Monats noch etwas Warmes auf den Tisch bekommen, sind Gereiztheiten, Streitigkeiten und Handgreiflichkeiten in der Familie wahrscheinlicher als in einer wohlhabenden Familie.

Das ist das eine. Zum anderen hatten es Opfer häuslicher Gewalt wegen geschlossener Schulen, Kitas und Beratungsstellen schwerer, Schutz zu finden. Das hat die Probleme in diesen Bereich verschärft.

Eine andere Steuerpolitik, also eine stärkere Belastung der Wohlhabenden, Reichen und ganz Reichen, bleibt aus.

Christoph Butterwegge

Armutsforscher

In welches Jahr hat uns die Pandemie in Sachen Geschlechtergerechtigkeit zurückkatapultiert?

Das ist schwer zu sagen, aber es hat Rückschritte im Hinblick auf die Gleichstellung der Geschlechter gegeben. In aller Regel übernahmen Frauen die Care-Arbeit zu Hause, wenn es in der Pandemie um die Betreuung der Kinder oder von Pflegebedürftigen ging. Häufiger waren die Frauen bereit, nur Teilzeit zu arbeiten, denn Männer verdienen im Durchschnitt fast 20 Prozent mehr in ihrem Vollzeitjob als Frauen an gleicher Stelle.

Ein Obdachloser liegt unter einer Eisenbahnunterführung in Hannover.

Ein Obdachloser liegt unter einer Eisenbahnunterführung in Hannover.

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Die Ampel steuert mit Bürgergeld, Kindergrundsicherung und Erhöhung des Mindestlohns dagegen. Ist der Kurs aus Ihrer Sicht richtig?

Sozioökonomische Ungleichheit lässt sich nur durch konsequente Bekämpfung der Armut und Begrenzung des Reichtums bekämpfen. Vor allem bei Letzterem mangelt es am Willen in der Ampelkoalition, weil die FDP alle Steuererhöhungen dogmatisch ausgeschlossen und für sich zur roten Linie erklärt hat.

Eine andere Steuerpolitik, also eine stärkere Belastung der Wohlhabenden, Reichen und ganz Reichen, bleibt aus. Dies lässt befürchten, dass die Kosten der Pandemie an den Armen hängenbleiben.

Immerhin steigt der Mindestlohn ab Oktober auf zwölf Euro.

Das ist ein Meilenstein im Kampf gegen die Armut, wenngleich der Zuwachs von 10,45 Euro ab 1. Juli gegenüber dem September 2017, als die SPD diesen Vorschlag nach einer verlorenen Bundestagswahl machte, erheblich geringer ausfällt und der Betrag aufgrund inzwischen stark gestiegener Verbraucherpreise auch viel weniger wert ist als fünf Jahre zuvor. Selbst in Vollzeit kommt man damit nicht aus der Armutsrisikozone heraus.

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Und was halten Sie von der Anhebung der Verdienstgrenze bei den Minijobs von 450 auf 520 Euro?

Richtig wäre es, die Minijobs sozialversicherungspflichtig zu machen. SPD, Grüne und FDP machen genau das Gegenteil, womit sie noch mehr Frauen in diese Armutsfalle locken.

Kann das angekündigte Bürgergeld gegen Armut helfen?

Ja, aber nur, wenn man die Sätze des Regelbedarfs erhöht und dem Arbeitslosengeld II nicht bloß einen schöneren Namen gibt. Anfang dieses Jahres bekam ein Alleinstehender im Hartz-IV-Bezug gerade mal 3 Euro mehr, 449 statt 446 Euro. Um sich ausgewogen und abwechslungsreich zu ernähren, benötigen Erwachsene jedoch mehr Geld als die im Regelbedarf hierfür enthaltenen 5 Euro täglich.

Menschen warten in einer Schlange vor der Bahnhofsmission am Hauptbahnhof München. Sie bietet Hilfe für Geflüchtete, Reisende und Obdachlose.

Menschen warten in einer Schlange vor der Bahnhofsmission am Hauptbahnhof München. Sie bietet Hilfe für Geflüchtete, Reisende und Obdachlose.

Da die Inflationsrate seinerzeit bereits viel höher war als die Anhebung des Regelbedarfs um 0,67 Prozent, sind die von Transferleistungen abhängigen Armen 2022 noch ärmer als 2021 – auch ihre Kinder, bei denen die Erhöhung ebenfalls unter einem Prozent blieb.

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Was schlagen Sie vor?

Es wäre ein Fortschritt, wenn Minderjährige im Zuge der von SPD, Grünen und FDP geplanten Kindergrundsicherung aus Hartz IV herausgeholt würden, weil sie da nicht reingehören. Entscheidend ist aber neben einer ausreichenden Höhe des Zahlbetrages, ob der steuerliche Kinderfreibetrag in die Neuregelung einbezogen wird.

Unterlässt das die Koalition, wie zu vermuten ist, bleibt der Nachwuchs von Spitzenverdienern dem Staat mehr wert als der von Normalverdienern. Kinder erster und zweiter Klasse kann sich Deutschland aber nicht leisten, sondern es geht darum, alle gleichzustellen und ihre Bildungschancen anzugleichen.

Was würden Sie eigentlich mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro machen, wie es für die Bundeswehr vorgesehen ist?

Vorab: Ich halte es für gänzlich unangebracht, diese gigantische Summe zusätzlich für Rüstung auszugeben, denn Hochrüstung bringt nicht mehr Sicherheit, auch dann nicht, wenn sie im Grundgesetz verankert wird. An vielen Stellen fehlt Geld, das der Staat auch nicht über höhere Steuern refinanziert. Womöglich müssen sogar die Armen für die geplante Fehlinvestition bluten.

Ich würde mir ein Sondervermögen wünschen, um die sozialen Probleme, Spaltungen und Spannungen zu bewältigen, welche die Covid-19-Pandemie sichtbar gemacht und verschärft hat. Also: Bekämpfung von Kinder- und Altersarmut, von Wohnungs- und Obdachlosigkeit sowie Verbesserung der sozialen, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur. Auf diesen Feldern wären 100 Milliarden Euro sinnvoller verwendet.

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Interview: Thoralf Cleven

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