Worum geht es bei Erdogans Drohung einer neuen Syrien-Offensive?
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Menschen inspizieren einen Ort in Syrien, der durch türkische Luftangriffe beschädigt wurde.
© Quelle: Baderkhan Ahmad/AP/dpa
Beirut. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat in den vergangenen Wochen mehrfach gedroht, Bodentruppen über die Grenze nach Syrien zu schicken. Wie ernst meint er es damit und was steckt überhaupt dahinter?
Auslöser der Drohungen war der Anschlag in der Fußgängerzone von Istanbul am 13. November, bei dem sechs Menschen ums Leben kamen und Dutzende weitere verletzt wurden. Erdogan macht dafür die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die syrisch-kurdische Gruppe YPG verantwortlich. Beide weisen jegliche Beteiligung zurück.
Seit dem 20. November griff das türkische Militär kurdische Stellungen in Syrien an, tötete Dutzende Menschen, neben kurdischen Kämpfern auch Zivilisten und syrische Regierungssoldaten. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch warnte, dass durch die türkische Offensive die humanitäre Krise in der Region noch verschärft werde. Aber auch die USA und Russland haben in dem Konflikt Positionen zu verteidigen. Moskau schickte kürzlich Vizeaußenminister Sergej Werschinin in die Türkei, um über die Lage in Syrien zu sprechen.
Im Folgenden einige Fragen und Antworten zu dem vielschichtigen Konflikt:
Was will die Türkei?
Die Türkei sieht die kurdischen Kräfte an seiner Grenze als terroristische Bedrohung, die Volksverteidigungseinheiten YPG sind für Ankara ein verlängerter Arm der PKK, die nach Autonomie im Südosten der Türkei strebt. Seit dem Jahr 2016 ist die Türkei bereits in drei großen Bodenoffensiven über die Grenze vorgerückt, um die kurdischen Kämpfer zurückzudrängen. Dabei erzielte Ankara große Geländegewinne im benachbarten Bürgerkriegsland.
Erdogan hofft, letztlich viele der 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei im Norden Syriens anzusiedeln. Mit dem Bau von Häusern wurde dort bereits begonnen. Damit würde er nicht nur Flüchtlinge loswerden, sondern auch erreichen, dass die traditionell kurdische Bevölkerung in der Region mit anderen syrischen Flüchtlingen durchmischt wird. Erdogan könnte davon politisch bei der Wahl im kommenden Jahr profitieren.
Wie stehen die Kurden da?
Die YPG waren und sind führender Teil der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), die mit Rückendeckung der USA erfolgreich die Terrormiliz Islamischer Staat in die Knie gezwungen haben. In Gefangenenlagern bewachen sie dort immer noch Tausende gefangene IS-Kämpfer und deren Angehörige. Mit US-Soldaten sind sie gemeinsam auf Patrouille.
Die Kurden hoffen, dass sowohl die USA als auch Russland als wichtiger Verbündeter und Kriegshelfer des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad wie schon einmal in diesem Jahr Plänen für eine türkische Bodenoffensive einen Riegel vorschieben. Doch diesmal ist man besorgt, dass die USA und der Westen andere geopolitische Interessen nach vorne stellen. Denn sie brauchen Ankaras Zustimmung zum Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens.
„Dieses Schweigen gegenüber der Brutalität der Türkei wird die Türkei ermutigen, eine Bodenoperation durchzuführen“, sagte Badran Dschia Kurd, stellvertretender Vorsitzer der Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens, kürzlich dazu.
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Wo stehen die syrischen Rebellen?
Die sogenannte Syrische Nationale Armee (SNA) verfügt über Zehntausende Kämpfer und wird seit Jahren von der Türkei unterstützt. Schon bei vorherigen türkischen Offensiven in Syrien soll die Gruppe Gräueltaten an Kurden verübt und Zehntausende aus ihren Häusern vertrieben haben. Auch diesmal würde sie vermutlich Infanterie für eine türkische Offensive zur Verfügung stellen. Auf Nachfrage wollte sich niemand von der SNA dazu äußern. Ein Funktionär sagte anonym, man sei von türkischer Seite angehalten worden, nicht über eine mögliche Bodenoffensive zu sprechen.
Und die syrische Regierung?
Die syrische Regierung hat die bisherigen Offensiven der Türkei klar als Verletzung der Souveränität ihres Landes verurteilt. Und die SNA ist seit Jahren Feind des syrischen Staates. Gleichzeitig sieht Damaskus aber auch die von den Kurden angeführten SDF als verfeindete Separatistentruppe, die zudem auf Zuruf aus Washington agiert.
Zuletzt haben sich Damaskus und Ankara ein wenig angenähert und die syrische Regierung war überraschend zurückhaltend, was den Tod syrischer Soldaten durch türkische Luftangriffe angeht.
Was werden die USA tun?
Die USA haben eine kleine Zahl an Soldaten in Nord-Syrien stationiert. Ihre Zusammenarbeit mit den SDF ist der Türkei seit langem ein Dorn im Auge. Nach den jüngsten türkischen Angriffen auf kurdische Stellungen in Syrien reagierte Washington erst so richtig, als die Angriffe den eigenen Soldaten gefährlich nahe kamen. Vergangene Woche stellte sich Verteidigungsminister Lloyd Austin dann entschlossen gegen eine neue türkische Bodenoffensive.
Wird Russland vermitteln?
Auch wenn Russland wegen seines Angriffskriegs in der Ukraine international isoliert ist, könnte es in dieser Weltregion noch vermitteln. Syrien ist einer seiner wenigen verbliebenen Verbündeten und mit der Türkei hat es immer wieder Absprachen zur Lage in Nord-Syrien gegeben. Der arabische Fernsehsender Al-Majadin mit Sitz in Beirut berichtete kürzlich, der russische Oberbefehlshaber in Syrien, Alexander Tschaiko, habe kürzlich dem SDF-Kommandeur Maslum Abdi den Vorschlag unterbreitet, syrischen Regierungssoldaten einen kleinen Streifen an der Grenze zu überlassen, damit die Türkei nicht einmarschiere.
Und wie steht eigentlich der Iran zu dem Ganzen?
Der Iran ist ein weiterer wichtiger Verbündeter das syrischen Präsidenten Assad. Die jüngsten Pläne für eine türkische Bodenoffensive hat er nicht kommentiert, anders als in der Vergangenheit, wo er sich klar dagegen aussprach.
Auch der Iran hat nämlich gerade mit seiner eigenen kurdischen Minderheit alle Hände voll zu tun. Nach dem Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini im Gewahrsam der Sittenpolizei kommt es seit Mitte September zu Protesten und Unruhen, vielfach in kurdischen Gebieten. Die Führung in Teheran hat ihrerseits iranisch-kurdische Gruppen im Exil im Irak beschuldigt, die Proteste anzufachen, und sie dort mehrfach angegriffen. Die Gruppen weisen das zurück. Indem Teheran eine Bodenoffensive der Türkei zulässt, könnte es selbst den Weg für eine größere Militäroperation in den eigenen Kurdengebieten bereiten.
RND/AP