„Ich identifiziere mich sehr mit Deutschland“: Warum ein „stolzer Hannoveraner“ Erdogan die Daumen drückt
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/KT32BEVC4VFNHPRJJSJ3JXTFRA.jpeg)
Am Abend der Wahl fahren Anhänger des bislang amtierenden türkischen Präsidenten Erdogan in Duisburg-Marxloh mit ihren Autos über die Straßen, Hupkonzerte ertönen, türkische Flaggen werden geschwenkt.
© Quelle: Christoph Reichwein/dpa
Berlin/Hannover. Nebi Sagir ist in Hannover geboren und aufgewachsen, er hat dort Abitur gemacht und sich zum Systemgastronomen ausbilden lassen. Heute betreibt der 45-Jährige einen Catering-Service und ist Vertriebsleiter einer Firma für Tiefkühl-Backwaren. Wenn er sich am Telefon meldet, spricht er seinen Namen deutsch aus, nicht türkisch – da wäre das g stimmlos und mit einem Haken versehen, das i wäre ohne Punkt und klänge dunkel. „Ich bin ein stolzer Hannoveraner“, sagt der Familienvater. „Ich identifiziere mich sehr mit Deutschland.“ Sagirs Eltern stammen aus Sivas in Zentralanatolien, er hat sowohl die deutsche als auch die türkische Staatsbürgerschaft. Er macht kein Geheimnis daraus, wen er bei der Türkei-Wahl als Sieger sehen möchte: Präsident Recep Tayyip Erdogan.
Nach jeder Türkei-Wahl flammt die Debatte darüber auf, warum so viele Menschen, die die Vorzüge der Demokratie in Deutschland genießen, in der Türkei für einen Autokraten stimmen. Ein mögliches Argument, das in der Diskussion immer wieder angeführt wird: eine schlechte Integration der Erdogan-Wähler. Sagir hält sich für eine Art Gegenbeispiel dafür.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/25H2B3JDCVDZFD4QAGFUVZN3YM.jpg)
Nebi Sagir ist in Hannover geboren und aufgewachsen, fühlt sich der Stadt verbunden und betreibt dort einen Catering-Service.
© Quelle: Privat
Deutschtürke Sagir: „Ich trage beide Länder im Herzen“
Der 45-Jährige sagt, er engagiere sich im Vorstand der Schule seiner achtjährigen Tochter. Bei der Arbeit stehe er um vier Uhr morgens auf dem Großmarkt in Hannover, um 18 Uhr komme er nach Hause. Natürlich zahle er seine Steuern in Deutschland. „Wir müssen dem Land als Geschäftsleute schließlich etwas zurückgeben“, sagt er. Als die türkische Zeitung „Sözcü“ 2016 eine Fotomontage der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Hitlerbart und in Naziunform zeigte, habe er der Redaktion empört geschrieben: „Ihr könnt meine Kanzlerin nicht als Hitler bezeichnen.“
Deutschland ist für ihn aber nicht seine einzige Heimat. „Ich trage beide Länder in meinem Herzen“, sagt der Deutschtürke. Er ist genervt davon, sich in Deutschland permanent für sein Wahlverhalten in der Türkei rechtfertigen zu müssen. „Warum gab es denn keine Diskussion darüber, ob Italiener in Deutschland für die Rechtspopulistin Giorgia Meloni gestimmt haben?“, fragt er. „Nur bei Türken ist es so wichtig, dass uns vorgeschrieben werden soll, wen wir zu wählen haben.“ In Deutschland könnten Türken ohne doppelte Staatsbürgerschaft – anders als EU-Bürger – bis heute nicht einmal an Kommunalwahlen teilnehmen, selbst wenn sie hier geboren seien, kritisiert Sagir. „Sie dürfen nicht einmal mitentscheiden darüber, wann die Mülltonnen geleert werden.“
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/6FSDWLIHPNHDBBEACS634AXZOI.png)
Krisen-Radar
RND-Auslandsreporter Can Merey und sein Team analysieren die Entwicklung globaler Krisen im neuen wöchentlichen Newsletter zur Sicherheitslage – immer mittwochs.
Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.
Sagir rechnet Erdogan hoch an, dass er es Türken im Ausland ermöglicht hat, in ihren jeweiligen Ländern abzustimmen. Vor 2014 mussten sie dafür eigens in die Türkei reisen, was nur wenige auf sich nahmen. Damals erkannte Erdogan das Potenzial, das da im Ausland schlummerte – und er wusste um seine Popularität vor allem bei den Türken in Deutschland, der weitaus größten Gruppe.
In Deutschland bekam Erdogan 65 Prozent der Stimmen
Bei der jüngsten Wahl ist Erdogan in Deutschland in der ersten Runde auf mehr als 65 Prozent der Stimmen gekommen, bei der Stichwahl dürfte er wieder weit vorne liegen. Weltweit sind 3,74 Millionen Auslandstürken zur Stimmabgabe aufgerufen, das sind rund 5,4 Prozent aller Wahlberechtigten. Im ersten Wahlgang lag die Differenz zwischen Erdogan und seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu bei 4,46 Prozentpunkten. Die Auslandstürken können bei knappen Rennen wahlentscheidend sein.
„Jahrelang hat sich niemand um uns gekümmert“, sagt Sagir. „Früher waren wir als Türken in Deutschland unsichtbar. Erdogan hat die Leute hier gesehen, und er sieht sie immer noch.“ Zudem habe Erdogan in seiner mehr als 20-jährigen Zeit als Ministerpräsident und Präsident die Türkei weit nach vorne gebracht. „Meine Eltern haben immer erzählt, wie ihr erster Eindruck von Deutschland war: schöne Straßen, Krankenhäuser, alles war modern. Das ist heute in der Türkei auch so.“ Was er von den zunehmenden Repressalien und dem Abbau der Pressefreiheit unter Erdogan halte? Dazu sagt Sagir, das könne er aus Deutschland heraus nicht beurteilen.
Früher waren wir als Türken in Deutschland unsichtbar. Erdogan hat die Leute hier gesehen, und er sieht sie immer noch.
Nebi Sagir
Sagir gehört nicht zum Lager der fanatischen Erdogan-Anhänger. „Er hat viele, viele Fehler gemacht“, sagt der Deutschtürke. Zum Beispiel die Spannungen mit der Bundesrepublik, die Erdogan anheizte. „Es bringt nichts, sich mit Deutschland anzulegen.“ Die Wirtschaft in der Türkei stecke in einer Krise, die Erdbebenhilfe der Regierung sei nicht rundgelaufen. Wenn die Opposition einen besseren Kandidaten aufgestellt hätte, sagt Sagir, dann hätte er sich vorstellen können, diesen zu wählen.
Experten halten den Zuspruch für Erdogan in Deutschland auch für eine Folge der mangelnden Integrationspolitik, die es über Jahre hinweg schlicht nicht gab. Schließlich gingen die deutsche Politik und Mehrheitsgesellschaft davon aus, dass die Gastarbeiter, die nach dem Anwerbeabkommen 1961 kamen, wieder gehen würden – ein Irrtum. Wie türkenfeindlich die Stimmung in Deutschland bereits in den 1970er-Jahren war, zeigt ein Blick in die Medien damals. Im Juli 1973 schrieb der „Spiegel“: „Städte wie Berlin, München oder Frankfurt können die Invasion kaum noch bewältigen.“ Die Überschrift der Titelgeschichte: „Die Türken kommen – rette sich, wer kann“. Die „Zeit“ veröffentlichte im April 1976 einen Bericht mit der Überschrift „Tore zu – die Türken kommen“.
Solche Artikel wären heute undenkbar, vieles hat sich für die Türken in Deutschland verbessert. In einer 2016 veröffentlichten repräsentativen Erhebung im Auftrag der Universität Münster unter türkischstämmigen Menschen in Deutschland gaben allerdings immer noch 51 Prozent an, sich als „Bürger zweiter Klasse“ zu fühlen. Sagir beklagt, Alltagsrassismus gebe es auch heute noch, etwa dann, wenn er sich dafür rechtfertigen müsse, warum er sich als Deutschtürke einen Mercedes leisten könne. Wenn er sich mit Menschen mit Vorurteilen konfrontiert sehe, dann sage er ihnen: „Das ist mein Land, das überlasse ich euch nicht.“