Diskussion über Putins Krieg bei Anne Will: „Wir können nicht so tun, als komme das aus heiterem Himmel“
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Der lettische Präsident Egils Levits zeigt sich imponiert vom Zusammenhalt Europas.
© Quelle: imago images/Chris Emil Janßen
„Dass Putin an einem Tag, an dem er bereits Krieg führt, mit Atomschlägen droht, ich möchte wissen, wer darauf gefasst war. Wir können uns das nicht ausmalen, so wie ich mir vor einer Woche auch noch nicht ausmalen konnte, dass Kiew wie Aleppo in Schutt und Asche gelegt wird.“ Mit zittriger Stimme und feuchten Augen warnte Historiker und Osteuropa-Experte Karl Schlögel am Sonntagabend in der TV-Show „Anne Will“ vor dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Teilweise habe es in Deutschland einen „Putin-Kitsch und Russen-Kitsch“ gegeben. „Ich bin froh, dass dieser Nebel endlich weg ist. Endlich wird Klartext gesprochen, wir sind in der Wirklichkeit angekommen.“
Zum Thema „Putin führt Krieg in Europa – wie ist er zu stoppen?“ suchte Anne Will in ihrer ARD-Sendung Antworten, wo es kaum welche gibt. Der lettische Präsident Egils Levits, per Videoschalte an der Talkrunde beteiligt, glaubt, dass es mehrere Ebenen sind, die ineinandergreifen müssen. Zunächst einmal müsse man die Realität anerkennen: „Wir haben es mit einem aggressiven Russland zu tun, das sein Imperium wiederherstellen will und die freie, demokratische Welt kann das nicht zulassen.“
Lettischer Präsident Levits: „Putin hat nicht mit der Einigkeit Europas gerechnet“
Zu den weiteren Mitteln zählten für Levits Waffenlieferungen an die Ukraine, wirtschaftliche Sanktionen gegenüber Russland und Kriegstreiber Putin, vor allem aber die Einigkeit und Entschlossenheit Europas, einen demokratischen Nachbarstaat zu verteidigen. „Putin hat nicht mit der Einigkeit Europas gerechnet, er hat den Vergleich mit den Handlungen auf der Krim und in Georgien, als der Westen nicht eingegriffen hat.“ Nun sehe er aber eine „Solidarität der Demokratien“, so Levits, die auch der „Stärke und den Werten“ von Demokratien entspreche.
So langsam sickere auch bei der Bundesregierung durch, dass Ukraine nur das eine ist, was Putin mache, sagte die stellvertretende Leiterin des Hauptstadtbüros des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND), Kristina Dunz. „Man muss Putin ernst nehmen bei seinem Vorhaben, die ehemaligen Sowjet-Staaten zurückgewinnen zu wollen.“ Der Krieg könne sich demnach etwa auf Moldawien, das Baltikum oder Transnistrien ausweiten. „Die Ukraine steht für das, was Putin Angst macht: Demokratie und Freiheit. Wenn Deutschland kein Zeichen setzt, dass wir einem Staat helfen, der unsere Werte verteidigt, dann sieht es sehr gefährlich aus für uns.“ Dunz ist überzeugt, dass der Mut und die Stärke des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj dazu geführt habe, dass Deutschland nicht mehr wegsehen konnte.
„Wenn Putin Atomkraftwerke angreift, ist mehr als nur die Ukraine betroffen“
Doch wie viel Hilfe braucht die Ukraine? CDU-Außenexperte Norbert Röttgen ist sich sicher, dass Putin die Ukraine nicht erobern wird, bis Sanktionen gegen Russland greifen, dafür sei das Land zu standhaft. Anders bewertet das die ukrainische Wissenschaftlerin am Institut für Europäische Politik, Ljudmyla Melnyk, deren Familie noch in der Ukraine lebt. „Die Ukraine ist nicht in der Lage, gegen die Raketen vorzugehen.“ Sie wünscht sich von der Nato, den ukrainischen Luftraum zu schützen. „Wenn Putin Atomkraftwerke in der Ukraine angreift, ist mehr als nur das Land betroffen.“
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FPD) bezeichnete Putin als „nicht mehr berechenbar“ und appellierte dafür, sich durch eine schnellere Energiewende unabhängig von Russland zu machen. Zudem dürfe man Russland keine Vorwände mehr liefern. „Putin braucht keine Vorwände, er handelt, er macht sein Spiel“, entgegnete Historiker Schlögel, der durch seine Emotionalität bei gleichzeitiger Sachlichkeit den beeindruckendsten Auftritt hinlegte. Er sei irritiert über die Ruhe und Gelassenheit in der Diskussionsrunde, sagte er - und spielte damit wohl vor allem auf Lindner und Röttgen an, die stellenweise nicht den Eindruck erweckten, dass ihnen der Ernst der Lage wirklich präsent ist – bei gleichzeitig viel Redezeit für Lindner.
Putin legt fest, wer Freund und Feind ist
Auch RND-Journalistin Kristina Dunz glaubt nicht daran, dass der Westen mit Deutschland deeskalieren kann. In Bezug auf Putins Drohung, wer sich ihm in den Weg stelle, werde Konsequenzen erleben, wie es sie noch nie in der Geschichte gegeben habe, sagte sie: „Putin legt fest, wer sich ihm in den Weg stellt. Es spielt keine Rolle, wie massiv wir reingehen. Wir sind für ihn schon jemand, der sich in den Weg gestellt hat.“ Man könne nicht warten, bis Sanktionen greifen. Auf Röttgens Einwand, die Ukraine würde so lange kämpfen können, entgegnete sie: „Das wird ein Blutbad geben.“
Schlögel teilt Röttgens Optimismus jedenfalls nicht – die nächsten Tage und Wochen würden zeigen, ob die Ukraine falle. Zudem stört er sich daran, dass Putins Krieg viele als so überraschend darstellen. Dass der russische Präsident zu einem solchen Schritt fähig ist, das habe die Annexion der Krim 2014 gezeigt. „Das ist seit damals in Gange. Man kann nicht so tun, als sei das jetzt neu. Der Blitzkrieg von vier Seiten ist neu, das konnten wir uns nicht vorstellen, aber wir können nicht so tun, als käme das jetzt alles aus dem heiteren Himmel.“
Lettland erleichtert wegen europäischem Zusammenhalt
Trotz jahrelanger Warnungen vor dem Aggressor Putin zeigte sich der lettische Präsident Levits indes ruhig – immerhin fürchten die baltischen Staaten Lettland, Litauen und Estland ebenfalls russische Angriffe. Offenbar jedoch macht ihm der Zusammenhalt von Nato und EU in den vergangenen Tagen Mut. Man kenne die russische Denkweise – „in den imperialen Kategorien des 19. und 20. Jahrhunderts“ – in Lettland seit Langem. Doch: „Nato und EU sind militärisch wie wirtschaftlich vielfach stärker als Russland. Wichtig ist Entschlossenheit und Einigkeit, nur dadurch kann Russland gestoppt werden. Wir können nicht zulassen, dass ein demokratischer Staat mitten in Europa, nicht weit von Berlin oder Riga entfernt, überfallen und eliminiert werden soll.“
Die einzige Ukrainerin in der Runde, Melnyk, kam kaum zu Wort. Die Schlussfrage jedoch ging an sie. Sie fasste noch einmal zusammen, was Schlögel, Levits und Dunz in der Stunde zuvor immer wieder andeuteten: „Wir können nicht Hoffnungen hegen, dass es sich beruhigen wird, wir müssen in die Herausforderungen schauen und sollten der Ukraine zuhören.“
Anne-Will-Talk am Sonntag: Wer kann Putin stoppen?
Was also kann Putin nun, wie das Thema des ARD-Polit-Talks war, stoppen? Die ersten Versuche sind unternommen: Aufrüstung in Europa, Waffenlieferungen an die Ukraine, Sanktionen gegen Russland und ein Gefühl von Solidarität und Einigkeit. Es sind die Schritte, die Europa gehen kann ohne eine eigene militärische Einmischung. Ob sich ein Größenwahnsinniger und Unberechenbarer davon wirklich stoppen lässt, weiß wohl nur Putin selbst.