Warum die Annexionswünsche der Donbass-„Republiken“ Putin weiter unter Druck setzen
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Ukrainische Soldaten fahren auf einem gepanzerten Fahrzeug auf einer Straße in der Region Donezk.
© Quelle: Leo Correa/AP/dpa
Angesichts des Vormarsches ukrainischer Truppen beginnt in den von Moskau unterstützten Separatistengebieten Luhansk und Donezk eine Kampagne für einen schnellen Beitritt zu Russland. In der sogenannten Volksrepublik Luhansk appellierte am Montag ein Bürgerkammer getauftes Gremium an die örtliche Führung, bald eine Volksabstimmung über den Anschluss abzuhalten.
Wenig später folgte in der Volksrepublik Donezk die Bürgerkammer mit der gleichen Bitte, wie die russische Nachrichtenagentur Tass meldete. Auch im Gebiet Cherson fordere die Bevölkerung ein Referendum, sagte der von Russland eingesetzte Verwaltungschef Kirill Stremoussow. Hat die ukrainische Gegenoffensive die kremltreuen Separatisten in Panik versetzt?
Putin: Haben es in der Ukraine nicht eilig
Russland habe es nicht eilig, seine „spezielle Militäroperation“ in der Ukraine zu beenden, sagte Präsident Wladimir Putin am Rande eines Mehrstaatengipfels.
© Quelle: Reuters
Das zumindest glauben die Experten der US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) in Washington. Diesmal kam nämlich sogar aus dem russischen Parlament Unterstützung für den Beitrittswunsch. „Das soll rasch geschehen, das ist der Wille der Menschen“, sagte der Duma-Abgeordnete Viktor Wodolazki von der Kremlpartei Geeintes Russland. Die Volksabstimmungen sollten noch vor dem Spätherbst stattfinden.
Außerdem sprang die russische Propaganda auf den Zug auf: Beim staatlichen Sender RT spricht man bereits vom „Krim-Szenario“. Mit dem Anschluss könnte Russland zudem die Nato besser unter Druck setzen, indem man mit Vergeltungsschlägen als Antwort auf Angriffe drohe, hieß es weiter.
Medwedew spricht von „geopolitischer Transformation“
Auch der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew hat Beitrittsreferenden in den von Moskau besetzten Gebieten in der Ukraine gefordert, um diese unwiderruflich an Russland anzugliedern. „Nach ihrer Durchführung und der Aufnahme der neuen Territorien in den Bestand Russlands nimmt die geopolitische Transformation in der Welt unumkehrbaren Charakter an“, schrieb er am Dienstag auf seinem Telegram-Kanal. Russland könne nach dem Beitritt der Gebiete „alle Mittel des Selbstschutzes“ anwenden.
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Doch laut den Fachleuten des ISW ist dieser Ansatz „inkohärent“. Denn die Russen kontrollieren zwar weite Teile der Oblasten Luhansk und Donezk – aber eben nicht alles. Das würde im Falle eines Anschlusses dazu führen, dass Teile „russischen“ Gebiets von der Ukraine „besetzt“ wären. Zudem hätten bereits ukrainische Angriffe auf der Krim gezeigt, dass die Nato keine unmittelbaren Vergeltungsschläge zu befürchten habe.
Viel wichtiger aber: „Die teilweise Annexion würde den Kreml in die komische Position bringen, zu verlangen, dass ukrainische Kräfte ‚russisches‘ Territorium verlassen sollen.“ Zudem wäre es „erniedrigend“ für Moskau, diese Forderung nicht mit aller Macht durchsetzen zu können. „Es bleibt unklar, ob der russische Präsident Wladimir Putin bereit wäre, sich für den zweifelhaften Vorteil, es einfacher zu machen, der Nato oder der Ukraine mit einer Eskalation zu drohen, in eine solche Klemme begeben will.“ Denn eine Eskalation gegen die Nato wolle Putin zum aktuellen Zeitpunkt wahrscheinlich gar nicht.
Russlands Elitetruppen klagen über „Erschöpfung“
Möglicherweise könnte ein Anschluss der Donbass-„Volksrepubliken“ darauf abzielen, dort mehr Männer für den Kampf gegen die Ukraine zu rekrutieren, mutmaßt das ISW. Russland hat derzeit nicht nur große Probleme mit der Moral seiner Truppen, sondern seit Kriegsbeginn auch schon viele Soldaten verloren.
Russland versuche daher „verzweifelt“, aus allen Ecken seines Territoriums weitere Kräfte zu mobilisieren. Diese fortschreitende Demoralisierung der russischen Soldaten weite sich derzeit sogar unter den Eliteeinheiten der Invasionstruppen aus, heißt es in der Einschätzung des ISW. Das würden Briefe belegen, die nach dem Abzug der Russen aus der Stadt Isjum gefunden wurden. Mit den Schreiben baten einige Soldaten ihre Kommandeure darum, wegen „moralischer und körperlicher Erschöpfung“ aus der Ukraine abgezogen zu werden.
Putin unter Druck
Andererseits jedoch seien die „Volksrepubliken“ mit ihrer Rhetorik in der Vergangenheit bereits mehrfach vorgeprescht, schreibt das ISW. Das könnte auch jetzt mit der Forderung nach einem schnellen Anschluss an Russland der Fall sein. Letztlich wirke sich diese Forderung auch auf die besetzten Gebiete im Süden der Ukraine aus. Würde sich Putin von seiner ursprünglichen Idee der Annexion jener Gebiete verabschieden, könnte das in den Augen der Kremlhardliner als „signifikanter Rückzug“ gewertet werden.
RND/sic/dpa