Raketenangriffe auf Kiew: Wie Ukraines Hauptstadt Putins Terror trotzt
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Arbeiter säubern ein zerstörtes Gebäude neben dem zerstörten Geschäftszentrum „Tower“ im Zentrum von Kiew, nachdem es am 10. Oktober von einer russischen Rakete getroffen wurde.
© Quelle: Andy Spyra
Kiew. Als die Sirenen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew Luftalarm vermelden, suchen Halyna Stefanova (40) und ihre Mutter Nadia (65) Schutz im Treppenhaus. „Das hat uns das Leben gerettet“, sagt die Tochter, als sie am Tag darauf vor den Trümmern des Gebäudes steht. In der Erdgeschosswohnung hat sie bislang mit ihrer Mutter gewohnt, daran wird angesichts der Zerstörung künftig nicht mehr zu denken sein. Fünf Nachbarn in dem Haus in der Zhylianska-Straße haben den russischen Angriff mit einer iranischen Drohne am Montag nicht überlebt, darunter eine schwangere Frau. Eines der Opfer ist am Dienstag gerade erst geborgen worden, die Tote liegt in einem schwarzen Leichensack, nur wenige Meter entfernt von dem Haus.
Auf der Straße vor der Ruine haben die ukrainischen Rettungskräfte gesammelt, was sie in den Trümmern gefunden haben. Darunter sind der Motor der iranischen Drohne, außerdem eine Armbanduhr, eine Handtasche und ein iPhone. Auch ein ukrainischer Reisepass ist dabei, ausgestellt auf Hanich Tetiana, geboren am 7. August 1963, die blonde Frau blickt auf dem Foto ernst in die Kamera. Tetiana war Krankenschwester, sie hat im Dachgeschoss gelebt und ist unter den Toten. „Das waren unsere Freunde“, sagt Halyna Stefanova über die verstorbenen Nachbarn. Die Überlebende klingt, als könne sie kaum fassen, was da geschehen ist.
Berichterstattung zum Krieg in der Ukraine
Can Merey (50) reist mit dem Fotografen Andy Spyra durch die Ukraine, unterstützt werden sie dabei von ihrem lokalen Kollegen Yurii Shyvala. Merey ist seit dem 1. Oktober 2022 Krisenreporter und Leiter Investigativ beim RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) in Berlin. Zuvor war er fast zwei Jahrzehnte lang Auslandskorrespondent der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Für die Nachrichtenagentur leitete er zwischen 2003 und 2022 das Südasien-Büro in Neu Delhi, das Nahost-Büro in Istanbul und zuletzt das Nordamerika-Büro in Washington. Er ist der Autor von zwei Büchern: „Die afghanische Misere – warum der Westen am Hindukusch zu scheitern droht“ (2008) und „Der ewige Gast – wie mein türkischer Vater versuchte, Deutscher zu werden“ (2018).
Vor ihrem früheren Zuhause wartet Stefanova nun auf ihre Katze Yulia, Helfer haben das Tier in den Ruinen gehört und wollen es bergen. Bevor das geschehen kann, müssen die Rettungskräfte Teile des Dachs entfernen, das einzustürzen droht. Einer der Helfer ist dafür an einen Kran angeseilt worden und arbeitet sich mit einer Kettensäge oben auf dem vierstöckigen Haus voran. Auf einer Seite des Treppenhauses hat die Drohne in den oberen drei Stockwerken die Außenwand der Wohnungen pulverisiert. Von den zur Straße gelegenen Zimmern ist nichts mehr übrig geblieben. Unten sticht ein grüngelber Farbklecks aus der verkohlten Trümmerlandschaft hervor. Es ist die Haustür, auf die Nadia Stefanova in besseren Zeiten eine Wiese mit Sonnenblumen gemalt hat.
Tochter Halyna sagt, zwei Nächte könne sie mit ihrer Mutter bei einem Cousin unterkommen. „Was wir danach machen, weiß ich nicht.“ Die Motivation des russischen Präsidenten Wladimir Putin, dessen Angriffskrieg gegen ihr Heimatland ihre Nachbarn getötet und sie sowie ihre Mutter obdachlos gemacht hat, sei ihr ein Rätsel – obwohl sie Psychologin sei. „Vielleicht ist er verrückt.“ Ihr fehlten die Worte, um zu erklären, was sie für Putin empfinde, sagt sie. Zumindest solche Worte, die gesellschaftsfähig seien. Die 40-Jährige klingt verzweifelt, als sie mit Blick auf ihr früheres Zuhause hinzufügt: „Das ist doch kein militärisches Ziel.“
Russland greift zivile Ziele an
Lange Zeit ist Kiew von russischen Luftangriffen weitgehend verschont geblieben. Nach dem Angriff auf die Brücke von Russland auf die Krim ist die ukrainische Hauptstadt wieder in Putins Visier gerückt. Die jüngsten Raketen- und Drohnenangriffe in Kiew lassen keinen Zweifel daran, dass Russland dort zivile Ziele angreift – allen Dementis aus Moskau zum Trotz.
Am Spielplatz im Taras-Shevchenko-Park im Zentrum Kiews füllt ein Bagger den tiefen Krater auf, den der Raketeneinschlag dort hinterlassen hat. Außerhalb des Parks ist eine Rakete im morgendlichen Berufsverkehr auf einer Straßenkreuzung detoniert, umliegende Gebäude wie das „Haus des Lehrers“ haben kein Glas mehr in den Fenstern.
Unweit des Hauses der Stevanovas steht das Tower-Business-Center – oder das, was von dem Hochhaus mit Büros und Geschäften nach dem russischen Luftangriff in der vergangenen Woche geblieben ist. In der einstigen Glasfassade klaffen auf breiter Front Löcher, die Wand des brasilianischen Restaurants im Erdgeschoss existiert nicht mehr, im Innenraum sind die Überreste der Theke zu sehen. Vor dem Hochhaus wehen noch die Flaggen Deutschlands, der EU und der Ukraine. Bis zum Luftangriff war hier die Visastelle der deutschen Botschaft untergebracht.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist bei dem Angriff ein Heizkraftwerk getroffen worden. In der unmittelbaren Nachbarschaft des Tower-Business-Centers sind ein Wohngebäude und ein Restaurant durch Raketeneinschlag schwer beschädigt worden. In einem Innenhof zwischen den Gebäuden parken Autos, die mit der Explosion zum Totalschaden geworden sind. In den Trümmerhaufen finden sich Sandalen ebenso wie Küchenzubehör, Spielzeug oder ein Katzenklo.
Ukrainische Freiwillige von der Organisation Shvydka Diya (auf Deutsch in etwa „Schnelle Aktion“) helfen, die Trümmer wegzuräumen. Einer davon ist Yevhen Bovsunov, der zu den russischen Angriffen meint: „Das ist Terrorismus.“ Bei den Zielen in Kiew habe es keinerlei militärische Rechtfertigung für einen Angriff gegeben. „Aber wir haben keine Angst. Stattdessen werden wir nur wütender. Die Angriffe schweißen uns zusammen.“ Bovsunov ist überzeugt davon, dass die Ukrainer sich vom großen Nachbarn nicht kleinmachen lassen. „Putin kann unsere Moral nicht brechen.“
Ähnlich klingt der Chef von Shvydka Diya, Eldar Seitablaiev. Die Organisation räumt nicht nur das Chaos auf, das russische Angriffe hinterlassen. Seine mehr als 230 Freiwilligen unterstützen außerdem Feuerwehr und Rettungskräfte bei den Bergungsarbeiten. „Die ganze Welt sieht jetzt, dass Russland kein Land ist, mit dem man verhandeln kann“, sagt Seitablaiev – er stammt von der Krim, jener Halbinsel, die Russland 2014 annektiert hat. „Russland ist böse und unmenschlich, ein Terrorstaat.“ Ob er einen Angriff Russlands auf Kiew mit taktischen Atomwaffen für denkbar halte? „Alles ist möglich“, sagt der 36-Jährige. Schließlich habe bis zum Kriegsbeginn am 24. Februar auch kaum jemand damit gerechnet, dass Russland tatsächlich in die Ukraine einmarschieren werde.
„Wir versuchen, das Leben so normal wie möglich weiterzuführen“
Wenige Tage nach Kriegsbeginn stand die russische Armee kurz vor Kiew, inzwischen wurden Putins Truppen zurückgeschlagen. Checkpoints und Panzersperren der ukrainischen Streitkräfte sind aus dem Zentrum der Hauptstadt verschwunden. Kenner der Millionenmetropole sagen, nach dem russischen Einmarsch habe Kiew „wie eine Festung“ gewirkt, an jeder Straßenecke habe das Militär gestanden. Nachdem die Invasoren aus der Umgebung vertrieben wurden, sei im Sommer wieder Normalität eingekehrt. Die Rückkehr der Luftangriffe habe nun aber dazu geführt, dass die Menschen vorsichtiger geworden seien – und lieber zu Hause blieben.
Auch am Dienstag ist Kiew wieder Ziel von russischen Angriffen. Kraftwerke im Osten der Hauptstadt werden getroffen. Vizebürgermeister Petro Panteelev sagt danach, wieder seien Menschen ums Leben gekommen, außerdem seien Zehntausende ohne Strom. „Wir versuchen, das Leben so normal wie möglich weiterzuführen, soweit das unter diesen Umständen möglich ist.“
Russland greift ukrainische Hauptstadt Kiew mit Drohnen an
Aus der ukrainischen Hauptstadt werden wieder russische Luftangriffe gemeldet. Laut Bürgermeister Vitali Klitschko sind mehrere Wohnhäuser betroffen.
© Quelle: Reuters
Auf den ersten Blick wirkt das Leben in der ukrainischen Hauptstadt tatsächlich normal. Geschäfte sind geöffnet, Menschen pendeln zur Arbeit, kurz nach Feierabend stehen die Autos im Berufsverkehr an den Ampeln im Stau. Cafés und Restaurants sind schon mittags gut besucht, Pärchen schlendern händchenhaltend durch die Innenstadt. Am Abend treffen sich Freunde und Familien im besten Herbstwetter draußen auf einen Snack oder einen Drink. Fast könnte man vergessen, dass zwischen 23 Uhr und 5 Uhr weiterhin eine Ausgangssperre gilt.
Spätestens auf den zweiten Blick ist der Krieg dann aber doch allgegenwärtig. Am Empfang des City-Hotels in der Innenstadt steht bei entsprechender Bedrohungslage ein Schild mit folgender Aufschrift: „Liebe Gäste, Luftalarm! Während eines Luftalarms steigt unser gesamtes Personal in den Luftschutzkeller hinab. Wir kehren zurück, sobald es sicher ist. Vernachlässigen Sie nicht Ihre Sicherheit – folgen Sie uns bitte an einen sicheren Ort!“
Eine Demütigung Moskaus
Jeder Gang durch die Stadt erinnert letztlich daran, dass die Ukraine im Krieg mit Russland ist – aber auch daran, dass die Regierung in Kiew der in Moskau in Sachen PR weit überlegen ist. Vor der Stadtverwaltung Kiews steht eine riesige Leinwand, darauf abgebildet ist eine Briefmarke der Post, die die Krim-Brücke in einer Zeichnung in Flammen zeigt. Es ist eine Demütigung Moskaus, vor der sich Ukrainerinnen und Ukrainer in großer Regelmäßigkeit fotografieren lassen.
Schon davor hatte die ukrainische Post eine Briefmarke herausgegeben, auf der ein Soldat abgebildet ist, der dem später versenkten russischen Raketenkreuzer „Moskwa“ auf der Schlangeninsel den Mittelfinger zeigt. Wer nach dem Krim-Brücke-Motiv die Khreshchatyl-Straße über den Maydan-Platz weitergeht, kommt an einen monumentalen Bogen, der einst die Freundschaft zwischen der Ukraine, Russlands und Belarus symbolisieren sollte. Inzwischen ist auf den Betonbogen in Schwarz ein unübersehbarer Riss gepinselt worden.
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Nur einen Fußmarsch entfernt von der Stadtverwaltung ist der Mykhailivskyi-Platz, auf dem erbeutetes russisches Kriegsgerät zur Schau gestellt wird. Auch hier lassen sich Ukrainerinnen und Ukrainer vor den verrostenden Panzerfahrzeugen fotografieren, die nie wieder ins Kampfgeschehen involviert sein werden. An dem Platz steht auf Englisch auf einem Transparent an einem Denkmal – das wie überall in der Stadt mit Sandsäcken und Holzwänden gegen russischen Beschuss gesichert ist: „Welt – hilf uns“. Wenige Meter weiter erinnern an der Mauer einer Kirche Porträts gefallener Soldaten an den Blutzoll, den die Ukraine in diesem Krieg mit Russland bezahlt.
Der Chef der Feuerwehrwache vier in Kiew, Serhiy Khyzhuk, sagt, der Kampfeswille der Ukrainer sei noch lange nicht gebrochen. Die Arbeit für sein Team sei seit Kriegsbeginn viel härter geworden, seine Leute gingen im Notfall auch bei Luftalarm raus. Niemand sei dabei ganz frei von Angst, sagt der 31-Jährige, „aber wir haben hier einen Job zu erledigen“. Womöglich werde der Krieg noch lange dauern. Er habe aber keinen Zweifel daran, dass die Ukraine ihn am Ende gewinnen werde.